Friede gründet auf Gleichberechtigung und gegenseitigen Respekt
13. Juni 2004 - 13. Juni 2005: Zum ersten Jahrestag der Wahlen zum Europäischen Parlament der 25
Von Daniel L. Schikora
Drei Tage nach den Wahlen zum Europäischen Parlament – am 16. Juni 2004, dem Vorabend des 51. Jahrestages des Volksaufstandes gegen die SED-Diktatur – sprach Altbundeskanzler Helmut Kohl, der die Universität Erfurt auf Einladung des Präsidenten der Universität, Wolfgang Bergsdorf, und der Erfurt School of Public Policy besuchte, zum Thema: „Deutsche Einheit und europäische Einigung“. Vor dem Forum eines vollbesetzten Audimax hielt Gerhard Schröders Amtsvorgänger ein leidenschaftliches Plädoyer für die Vision der Dauerhaftigkeit einer europäischen Friedensordnung, die den freien Lebensanspruch jeder Nation – unabhängig von deren Einwohnerzahl, militärischer Macht oder territorialer Ausdehnung – auf der Grundlage gewaltfreier Gleichberechtigung garantieren würde.
Im Zentrum des Vortrages stand die unauflösliche Verflechtung der „Deutschen Frage“ mit den gegenseitigen Verpflichtungen der Völker Europas auf eine gleichberechtigte, friedliche Koexistenz innerhalb einer Staatenunion, des „Hauses Europa“. Mit der EU-Osterweiterung, die – neben Malta und (Süd-)Zypern – acht mittel- resp. ostmitteleuropäische Staatswesen in das „Haus Europa“ integrierte, sei – so Helmut Kohl – die Wiedervereinigung des Kontinents vollzogen worden. Kohl wies darauf hin, daß nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges der Wille führender Staatsmänner des westlichen Europa zu einer gemeinsamen Wahrnehmung von Hoheitsrechten von dem Bestreben getragen worden sei, eine Rückkehr zur Barbarei auszuschließen. Diese Zielsetzung im Auge, habe bereits im September 1946 Winston Churchill in Zürich zu einem Zusammenschluß der Europäer aufgerufen. Wenn Kohl die Schritte zu einer Erweiterung und Vertiefung der EU als irreversibel und mit Blick auf das verpflichtende Postu lat des Friedenserhalts, des Abschieds von der Barbarei europäischer Selbstzerfleischung, zeichnete, so vermittelte er Authentizität durch die Vergegenwärtigung seiner Erfahrungen als Jugendlicher, der, am Ende des Krieges an die Flak befohlen, selbst unmittelbar mit der Realität dieser Barbarei konfrontiert worden war.
Die Osterweiterung der Union und die Wahlen zum Europäischen Parlament in 25 EU-Mitgliedstaaten würdigte der „Kanzler der Einheit“ als historische Zäsur: Durch sie sei die Bruchlinie zwischen Deutschland und den Ländern Ostmitteleuropas überwunden und Deutschland gleichzeitig aus seiner geopolitisch prekären Randlage befreit worden. Auf diese Weise schloß die EU-Erweiterung den Prozeß der Aufhebung einer geostrategischen Gefährdungslage ab, die – nach der Auffassung Kohls – in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine totalitär-imperialistische Fehlentwicklung des deutschen Nationalstaats begünstigt hatte und auch nach 1945 im Hinblick auf die Spaltung des Kontinents durch den Eisernen Vorhang nicht vollständig überwunden worden war. In diesem Kontext betonte Kohl die Verantwortung NS-Deutschlands für die europäische Spaltung, aus der sich eine Verpflichtung der Bundesrepublik, den Ostmitteleuropäern eine Partizipation in dem „Haus Europa“ zu garantieren, ergebe. So richtet en sich bereits in der Phase der Auflösung der Sowjetunion alle Hoffnungen der baltischen Völker, die Hitler an Stalin „verraten“ habe, auf den „Leuchtpunkt“ Europa. Als aufschlußreich erschien hinsichtlich der engen deutsch-französischen Kooperation bei der Konstituierung der EU der Hinweis des Altbundeskanzlers auf Staatspräsident Mitterrands Sympathiebekundungen für die Entscheidung, Berlin für die Hauptstadt des vereinigten Deutschland zu erklären: Zum Unterschied von Bonn verfüge Berlin über eine erhebliche Ausstrahlungskraft in das östliche Europa, die für die Anliegen einer künftigen Staatenunion dienstbar gemacht werden könnte. Wer das Recht der Ostmitteleuropäer, an den Geschicken der EU mitzuwirken, prinzipiell in Abrede stelle, lege – so unterstrich Kohl – in Anbetracht der kulturellen und historischen Bindungen zwischen diesen Ländern und dem übrigen Europa eine unmoralische Haltung an den Tag. Analog zu der EU-Osterweiterung seien auch Spanien und Portugal – all en Unkenrufen zum Trotz – erfolgreich und zum Nutzen aller Betroffenen in die EG integriert worden. Die gemeinsame Währung, die ebenfalls gegen den vehementen Widerstand großer Teile der EU-Bürger habe durchgesetzt werden müssen, habe die Schicksalsgemeinschaft der beteiligten europäischen Staaten irreversibel gemacht.
Wenn Kohl einerseits die Notwendigkeit einer vorbehaltlosen Akzeptanz der Konzeption einer europäischen Staatenunion herausstrich, deren Alternative seiner Einschätzung nach in einer Hinnahme der Gefahr einer erneuten Barbarei liegt, so warnte er andererseits in eindringlichen Worten vor einer Mißachtung des Prinzips der souveränen Gleichheit innerhalb des „Hauses Europa“: Eine Friedensordnung setze den Respekt vor jedem einzelnen EU-Mitgliedstaat voraus. Europa müsse den Charakter eines „Hauses der Gleichberechtigten“ wahren. Die antidemokratischen „Sanktionsmaßnahmen“ gegen die Republik Österreich, die von den Regierungen der 14 anderen EU-Mitgliedstaaten ausgingen, kennzeichnete Kohl als „idiotisch“ (nicht ohne sich demonstrativ von dem „Populismus“ des FPÖ-Chefs Jörg Haider abzugrenzen, der freilich die Mißachtung eines Wählervotums keinesfalls rechtfertige); der Idee eines „Zwei-Klassen-Europa“ erteilte er eine unmißverständliche Absage.
Fast zwangsläufig wurde auch das transatlantische Verhältnis thematisiert. Kohl beklagte Tendenzen zu einer kollektiven Verdrängung der Hilfeleistungen, die die Vereinigten Staaten nach 1945 den (West-)Deutschen hatten angedeihen lassen, aus dem Bewußtsein vieler Deutscher. Die historische Tatsache, daß die USA in der Nachkriegs-Ära vielfach als einzige Treuhänder der Lebensinteressen deutscher Zivilisten hervortraten, werde insbesondere seitens jüngerer Generationen in Deutschland häufig mit wenig Dankbarkeit quittiert. Darüber hinaus riefen in den USA chauvinistische Äußerungen französischer Politiker gelegentlich Irritationen hervor. Auf der anderen Seite stellte der wenige Stunden zuvor noch in Peking weilende Altbundeskanzler fest, daß die Vereinigten Staaten nicht allein auf der Welt seien, sondern auch sie sich vielmehr mit den Gegebenheiten einer multipolaren Weltordnung konfrontiert sähen. Mit Blick auf die Gefahr eines Zerwürfnisses zwischen EU-Mitgliedstaaten mißb illigte er in scharfer Form die Rede des US-Verteidigungsministers Rumsfeld von einem „alten Europa“, dem dieser ein der offensiven Verteidigung „westlicher“ Werte aufgeschlossener gegenüberstehendes „neues Europa“ entgegengestellt hatte.
Als der frühere Bundeskanzler in der sich an seinen Vortrag anschließenden Diskussion dazu aufgefordert wurde, zu der Debatte über eine EU-Vollmitgliedschaft der Türkei Stellung zu nehmen, postulierte Kohl eine engstmögliche Bindung dieses Staates an die Europäische Union, die gleichwohl nicht zwangsläufig in einer EU-Aufnahme der Türkei münden werde. Ein solcher Schritt, betonte Kohl, sei an die Kopenhagener Beschlüsse gebunden, die als Voraussetzung des EU-Beitritts eine Respektierung menschenrechtlicher Normen – einschließlich von Minoritätenrechten – festlegen, wie sie in türkischem Territorium nach wie vor mißachtet würden. Kohl erwähnte hierbei das Schicksal der in der Türkei beheimateten Kurden und stellte klar, daß in gleichem Maße, wie er den Moscheenbau in der Bundesrepublik für gerechtfertigt und unterstützungswürdig halte, auch für das Recht von Christen einzutreten sei, denen es bis heute verwehrt sei, in Anatolien ein Franziskanerkloster zu gründen. Aus wahlstra tegischen Gründen kritiklos einem EU-Beitritt der Türkei das Wort zu reden, prangerte Kohl als verantwortungslos an. Andererseits gab der Altbundeskanzler seiner Hochachtung für die türkische Hochkultur Ausdruck und würdigte den Begründer des modernen türkischen Staates, Mustafa Kemal Atatürk, aufgrund seiner Geste der Solidarität mit deutschen NS-Verfolgten, die in der Türkei Zuflucht fanden.
Hinsichtlich einer möglichen weiteren territorialen Ausdehnung der EU erklärte Kohl, daß er nicht nur den Rhein, sondern auch die Donau als europäische Flüsse betrachte. Bedauerlicherweise ging er in diesem Zusammenhang nicht auf das Schicksal der Völker der Balkanhalbinsel ein, das sich auch in den bombardierten Donaubrücken sowie den fortlaufenden terroristischen Angriffen im Kosovo dokumentierte und das Ideal eines „Hauses Europa“ als eines Horts des Friedens konterkarierte. Gleichwohl setzte der öffentliche Vortrag eines der Architekten nicht nur der deutschen Vereinigung, sondern auch der Europäischen Union einen Kontrapunkt zu einem Europa-Wahlkampf, der sich bisweilen eher durch „Friedensmacht Deutschland“-Parolen ausgezeichnet hatte, als durch einen Appell zu einer gegenseitigen Achtung aller Nationen unseres Kontinents.
Daniel L. Schikora
Memo
In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag anlässlich von dessen letzter Tagung in Bonn am 1.7.1999 stellte der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl einen weitreichenden Konsensus der staatstragenden Parteien hinsichtlich der deutschen Weltmachtpolitik im Kontext des Nordatlantikbündnisses fest:
„Bei fast allen im Bundestag vertretenen Parteien gilt das Bündnis westlicher Demokratien mittlerweile als ‘Kernpunkt deutscher Staatsräson’, wie ich es in meiner Regierungserklärung 1982 formulieren durfte. Damals, auf dem Höhepunkt der Debatte über die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen, wurde dieser Hinweis auf die Staatsräson heftig attackiert. Sie verstehen, daß ich mich in diesen Tagen daran erinnere. Ich freue mich, daß inzwischen so viele, die einmal anders dachten, heute genauso denken. Das tut mir wohl.“
Wenn Helmut Kohl eine Adoption der Postulate klassischer konservativer Außenpolitik durch das aus einst radikalen Gegnern der nordatlantischen Verteidigungs-Strategie gegenüber der aggressiven Aufrüstungspolitik der Sowjetunion sich rekrutierende rot-grüne Kabinett suggeriert, so sieht er offenbar gezielt über die KONTINUITÄT der Verwerfung von Maximen wie der Selbstbestimmung der Nationalstaaten durch die früheren Aktivisten der sogenannten Friedensbewegung und heutigen Minister Rudolf Scharping und Josef Fischer hinweg. Während die Auffassungen der Nachrüstungsbefürworter Helmut Schmidt, Alfred Dregger und Helmut Kohl von den heutigen Menschenrechtsfundamentalisten als friedensgefährdend gebrandmarkt zu werden pflegten, so erscheinen diesen überzeugten prosowjetischen Appeasement-Propagandisten der Jahre 1980-83 im Frühjahr 1999 der Appell Alfred Dreggers, eine politisch fehlgeschlagene Militärintervention zu beenden, und die Kritik Helmut Schmidts an der Verletzung des internationalen Rechts durch die Bundesregierung Schröder als quasi reaktionäre Berufungen auf das Ideal einer Harmonie selbstbestimmter, in ihrer außenpolitischen Willkür aber eingeschränkter Nationen. Dass nicht nur Schröders Amtsvorgänger, sondern auch nahezu alle anderen CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten die antislawische Weltpolitik des derzeitigen Kabinetts als eine konsequente Fortsetzung der bis 1998 von ihnen getragenen zu identifizieren scheinen (auch wenn CDU-Protagonisten, wie Wolfgang Schäuble oder Roland Koch, ihre Missbilligung der übersteigerten Kriegspropaganda gegen den jugoslawischen Präsidenten und der Verstärkung des NATO-Bombenterrors nach der Erklärung Belgrads, in Friedensverhandlungen eintreten zu wollen, zum Ausdruck brachten), ist ein Phänomen, das Hannah Arendt mit Blick auf den in der Kampagne gegen Alfred Dreyfus hervortretenden Antisemitismus, wie folgt, beschrieben hat: „[…] die ständig wachsende Bewunderung der guten Gesellschaft für die Unterwelt […], ihr allmähliches Nachgeben in allen moralischen Fragen, ihre wachsende Vorliebe für den anarchischen Zynismus ihres Sprößlings - bis am Ende des Jahrhunderts […] für einen kurzen und noch verfrühten Augenblick Unterwelt und gute Gesellschaft sich so innig miteinander verbündeten, daß es schwer ist, irgendeinen der ‘Helden’ der Affäre eindeutig zuzuordnen: Sie sind gute Gesellschaft und Unterwelt zugleich.“ Die Bewunderung eines blutrünstigen bürgerlichen Publizisten, wie Josef Joffes, der - während er den kurdischen Guerillaführer Abdullah Öcalan für 30 000 Opfer der bewaffneten Auseinandersetzung zwischen türkischem Zentralstaat und PKK verantwortlich macht - serbische Zivilbevölkerung als „Täter“ qualifiziert, auf welche die NATO-Kriegführung keine Rücksicht zu nehmen habe, für den ehemaligen Republik-Gegner Fischer und das Vertrauen, das er in dessen Pflichtbewusstsein zu setzen sich imstande sieht, ist von Hannah Arendt erschöpfend charakterisiert als die Erkenntnis der Bourgeoisie, „daß es an der Zeit sei, die lästigen Hemmungen abendländischer Tradition loszuwerden […]. Das Ende kam, als in unserer Zeit die deutsche gute Gesellschaft schließlich die Maske der Hypokrisie ganz und gar abwarf und eindeutig den Mob mit der Wahrung ihrer Besitzinteressen beauftragte.“ Ãœber Unterschiede zwischen deutschem und französischem Bürgertum in der Rezeption antisemitischer und imperialistischer Gewaltphantasien konstatiert Arendt:
„Die Zuneigung der guten Gesellschaft zum Mob offenbarte sich in Frankreich noch früher als in Deutschland und war schließlich in beiden Ländern gleich stark; nur daß Frankreich auf Grund der Tradition der Französischen Revolution und der mangelnden Industrialisierung des Landes sehr wenig Mob produziert hat, so daß die französische Bourgeoisie sich hilfeflehend nach Verbündeten jenseits der Grenzen in Nazi-Deutschland umsehen mußte.“
Auch in unserer Dekade vermag das politische Leben Frankreichs - Arendt zufolge auch dank Rousseau und Robespierre - nicht auf den Politiker-Import aus rechtsrheinischem Territorium zwecks Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten des Mob-Elements zu verzichten: Der spiritus rector des deutschen Au-ßenministers, Daniel Cohn-Bendit, hat angekündigt, die französische Staatsbürgerschaft zu beantragen.
September 1999
Kommentar von Digenis Akritas — 16. Juni 2005 @ 20:26
Im Nachhinein wird an diesen Worten noch einmal klar, was wir an dem überzeugten Europäer Kohl hatten.
Insgesamt ein wirklich guter Beitrag.
TK
Kommentar von Campo-News — 17. Juni 2005 @ 15:23