Neulich auf der Wolkenbank
Eine (beinahe) wahre Geschichte von Tanja Krienen
Neulich auf der Wolkenbank, die beide zweckmäßig, wie es ihrem Charakter entsprach, einrichteten, und auf der sie sich mit den Jahren leidlich zusammenrauften, stieß Arthur Schopenhauer jählings dem schlummernden Friedrich Nietzsche in die Rippen: “Jetzo schlägst aber Dreizehn! Spitzen Sie die Ohren, teuerster Freund, und lauschen Sie. Unsere deutschen Alt-48er rebellieren wieder!“ Nietzsche wurde wach, drehte den Kopf Richtung Deutschland, schaute nach unten und lauschte in die wattierte Stille.
“Wir wollen Deutschland dienen. Ich will Deutschland dienen”, rief gerade Frau Merkel aus.
Nietzsche lachte keckernd auf: „Die Frauen. Gott weiß was sie wollen und tun. Sie ist ja ganz apart, nicht so ein dürres schmutzige übelriechende Äffchen, mit falschen Brüsten, wie ich seinerzeit, Sie erinnern sich noch, verehrtester Schopenhauer, über Lou Andreas Salome schrieb. Ich bereue das, soviel hat sie bei mir gelernt und sie hat so vortreffliche Psychoanalyse betrieben, dass es fortan eine Freud war. Und doch hätte ich jetzt lieber 24 Huren bei mir!“, er rieb sich den dicken Schnauzbart und grinste.
Schopenhauer bekam einen roten Kopf, seine Gesichtszüge erhielten wieder jenen grimmigen Ausdruck, den auch die schwerelose Todeszeit, nicht aus seinem Antlitz tilgen konnte. “Papperlapp, mein Bester! Sie immer mit ihren Frauensleuten. Hätten mal der Schwester frühzeitig den Hintern versohlen sollen, damit sie diesem Führer nicht ihre Schriften verehrt. Hören Sie zu: Dieser Nationalstolz! Er verrät in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte, indem er sonst nicht zu dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen teilt. Wer bedeutende persönliche Vorzüge besitzt, wird vielmehr die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie beständig vor Augen hat, am deutlichsten erkennen. Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein.”
“Das ist wohl war. Einst war der Geist Gott, dann wurde er zum Menschen, und jetzt wird er zum Pöbel”, seufzte Nietzsche, reckte die Glieder und sprach: “Deutschland, Deutschland über alles. Ich fürchte, das war das Ende der deutschen Philosophie. Es sind meine Feinde, ich bekenne es, diese Deutschen. Wenn ich mir eine Art Mensch ausdenke, die allen meinen Instinkten zuwiderläuft, so wird immer ein Deutscher daraus. Man erniedrigt sich durch den Verkehr mit Deutschen. Deutsch denken, deutsch fühlen, ich kann alles, aber das geht über meine Kräfte. Wir, die wir in der Sumpfluft der fünziger Jahre Kinder gewesen sind, sind mit Notwendigkeit Pessimisten für den Begriff “deutsch”; wir können gar nichts anderes sein als Revolutionäre - wir werden keinen Zustand der Dinge zugeben, wo der Mucker obenaus ist. Ich bin in meinen tiefsten Instinkten allem, was deutsch ist, fremd, so daß schon die Nähe eines Deutschen meine Verdauung verzögert. Soweit Deutschland reicht, verdirbt es die Kultur. Den höchsten Begriff vom Lyriker hat mir Heinrich Heine gegeben. Man wird einmal sagen, daß Heine und ich bei weitem die ersten Artisten der deutschen Sprache gewesen sind - in einer unausrechenbaren Entfernung von allem, was bloße Deutsche mit ihr gemacht haben.”
Schopenhauer nickte: “Diese “deutschen Brüder” und “Demokraten”, die dem Volk schmeicheln, um es zu verführen, - alles lächerliche Affekte! Dem Nationalcharakter wird, da er von der Menge redet, nie viel Gutes ehrlicherweise nachzurühmen sein. Vielmehr erscheint nur die Schlechtigkeit in jedem anderen Lande in einer anderen Form, und diese nennt man den Nationalcharakter, - jede Nation spottet über die andre und ALLE HABEN SIE RECHT!”
Nun hatte sich der arme Schopenhauer doch ein bisschen übernommen, plumpste kraftlos in die Wolke zurück, und da er sich gleichzeitig mit all seiner Wut aufgepumpt hatte, konnte ein aufmerksamer Beobachter, sofern er ganz besonders gut hinschaute, ein leichtes Aufbauschen der nebelartigen Substanz erkennen.
Doch Nietzsche war jetzt nicht mehr zu halten: “Nein, wir lieben die Menschheit nicht; wir sind aber auch nicht deutsch genug, um dem Nationalismus und dem Rassenhaß das Wort zu reden, um an der nationalen Herzenskrätze und Blutvergiftung Freude haben zu können, derenthalben sich jetzt in Europa Volk gegen Volk wie mit Quarantäne abgrenzt, absperrt. Wir Heimatlose, wir sind zu vielfach gemischt, als moderne Menschen, und folglich wenig versucht, an jener verlogenen Rassen-Selbstbewunderung teilzunehmen, welche sich heute in Deutschland als Zeichen nationaler Gesinnung zur Schau trägt. Wir sind - und es soll unser Ehrenwort sein - gute Europäer, die Erben Europas. Hier, wo die Begriffe ,,modern” und “europäisch” fast gleich gesetzt sind, wird unter Europa viel mehr verstanden als das geographische Europa; namentlich gehört Amerika dazu, soweit es eben das Tochterland unserer Kultur ist. Dank der krankhaften Entfremdung, welche der Nationalitätswahnsinn zwischen die Völker Europas gelegt hat und noch legt, werden die unzweideutigsten Anzeichen übersehn, in denen sich ausspricht, das Europa EINS werden will. Der Handel und die Industrie, der Bücher - und Briefverkehr, die Gemeinsamkeiten aller höheren Kultur, diese Umstände bringen notwendig eine Schwächung und zuletzt eine Vernichtung der Nationen mit sich. Langsam geht der Gang vorwärts, trotz jeweiliger Gegenströmungen: dieser künstliche Nationalismus ist übrigens gefährlich und braucht List, Lüge und Gewalt, um sich in Ansehen zu halten. Hat man das einmal erkannt, so soll man sich nur ungescheut als guten Europäer ausgeben und durch die Tat an der Verschmelzung der Nationen arbeiten. Was Vaterland? Dorthin will unser Steuer, wo unser Kinderland ist! Und weil der Verkehr immer kosmopolitischer werden muß, so ist ein Heilmittel zu finden: es wird eine neue Sprache für alle geben, so gewiß, als es einmal Luftschifffahrt geben wird.”
Just in diesem Moment, flog ein Flugzeug vorbei und rüttelte die beiden Alten kräftig durch. „Fürderhin“, murmelte Nietzsche, „werde ich mir bestimmte Prognosen tunlichst versagen.“ „Nicht wahr?!”, pflichtete ihm Schopenhauer bei, “atmen Sie mehr buddhistische Luft Nietzsche! Leicht gesagt, ich weiß.“ Er schüttelte an diesem Tage noch lange den Kopf, über sich und die Welt, pfiff dabei eine längst nicht mehr bekannte, spöttisch klingende Melodie, nahm seinen Hund Atma an die Leine, und mit den üblichen großen Sauseschritten, und obligatorisch wehendem Mantel, zog er das Tier - ohne aufzuschauen - hinter sich her, während er unentwegt „ja gibt’s denn das?“ murmelte - dort oben auf der Wolkenbank, Ende Mai, im Jahre des Herrn Zweitausendundfünf.