RHYTHM AND BOOKS
1. The complete Millionen Dollar Quartett, 2006, Sony
Da schlenderte ich in der Hauptstadt unseres schönen und größten hessischen Kreises
durch das exklusive Woolworth-Kaufhaus und entdecke mittenmang in der gediegenen CD-Abteilung ein Produkt der phantastischen Vier (Jerry Lee Lewis, Johnny Cash , Elvis Presley und Carl Perkins).
An einem Dezembertag des Jahres 1956, um genau zu sein dem 4, traf sich in Sam Philipps Sun-Record-Studio jenes „Million Dollar Quartett“, um eine Session der besonderen Art aufzunehmen (als Nebenprodukt). Nun, die Aufnahmen sind Elvis-lastig, aber lästig sind sie deshalb nicht, weil sie 15 Jahre vor seiner Mutation zu einem feisten, künstlerisch längst erstarrten, schlimmen Menetekels von Decadence, Rock n´roll Idiotismus und Entertainment-Perversion, aufgenommen wurden. Presley zeigt hier, was er konnte: unverstellt und artifiziell, kreativ und traditionell, spielt er mit seinen Begleitern in einzigartiger Weise die Breite der Musik herunter, von religiösen Liedern, über Negermusik und Folkssongs bis hin zum „neuen“ Rock ´n roll.
Cash ist praktisch nicht zu hören, er sagte später, er habe höher gesungen, um Presley besser begleiten zu können. Das leuchtet ein. Zwanzig Jahre später sollte Jerry Lee Lewis schwer angetrunken mit der Schusswaffe vor Presley Haus in Graceland stehen, doch die Polizei unterband Konsequenteres. Weiteres kann ich mir sparen, gibt es doch eine passable Beschreibung der Begleitumstände dieser Aufnahme, und hören muss man es eh allein. Proben gibt es im Link ganz oben. Bitte unbedingt „Peace in the valley anhören“!
2. Kasselbande
Kassel (bis 1926 Cassel) ist bekannt für „Kassler“, „Kassler“ und „Kassler“, welche der Reihe nach gepökeltes Schweinefleisch (nach Metzgermeister Cassel aus Berlin), ein Weizenmisschbrot, und einen Typ Mensch, der zwar nicht so muffig wie der gemeine Nordhesse erscheint, dafür aber in einer ausgesprochen hässlichen Stadt lebt, meinen. Zudem gibt es noch die „Huskies“ und einen Fußballverein der sich Hessen Kassel nennt und in der 4. Liga spielt.
Da hat man seinen Körper 51 Jahre durch die Welt geschleppt, aber wenn man aus dem Kasseler Bahnhof ins Freie tritt, reibt man sich zunächst verwundert die Augen wie nie zuvor und denkt: hast du im Zug geschlafen? Oder gab es einen Zeitsprung? Bist du in Ost-Berlin? Nicht ganz, sagt dann der zweite Blick, die Häuser sind nicht so hoch. Aber sonst. Völlig zerbombt, hat man die Innenstadt am 50er Jahre Reißbrett so entworfen, dass die letzte Assoziation grad noch abgewendet werden kann, gibt es doch einen Philipp-Scheidemann-Platz (er wurde in Kassel geboren) und keine Stalin-Allee, aber eine ökosozialistische Struktur mit der Dreier Kassel-Bande (LW 08: 42,3 SPD, Grüne 11,9, Linkspartei 8,5) und sagt dort der Oberbürgermeister, der Bertram Hilgen heißt, den Zielvorgaben entsprechend: „Nun freue ich mich auf einen nach Gender Mainstreaming Gesichtspunkten aufgestellten Haushaltsplan und entsprechende Budgets für die Stadtverwaltung.“ Genau so kesselt es hier.
Nach diesem Schock kämpft man sich über die Plätze und breit angelegten Straßen, ehe man den City Point erreicht, der aber etwas mehr Charme als die abgebildete Dame hat. Vor allem aber gibt es dort den Bücherladen Hugendubel, der auf zwei Ebenen alles führt, was ein Bücherwurm, nicht grad der Spitzwegsche Buch-Philister, so braucht, um zur Leseratte zu wachsen. So stieß ich auf:
3. Konrad Paul Liessmann, Theorie der Unbildung, Paul Zsolnay Verlag
Der erste Eindruck: da schreibt ein Alt-Philologe, ein stockkonservativer, ein alter Herr Marke Schwanitz oder Bueb mit Strenge in der Feder und im beiliegenden Schlagstock. Tatsächlich schreibt er so, war aber einst in einer österreichischen K-Gruppe aktiv und sieht zudem so aus, wie man es nicht von einem 55jährigen dieser Gattung erwarten kann. Kurzum: Die Mischung machts und die ist überzeugend, letztlich für niemanden zu vereinnahmen und schlussendlich: eine hervorragende Bestandsaufnahme des Bereiches „Bildung“ in den deutsprachigen Ländern.
Man muss ein paar konkrete Forderungen oder Schlüsse nicht richtig finden, aber die Punkte, die er auf dem Weg dorthin benennt, sind allemal richtig. Schon sein Einstieg, in dem er das „populäre Wissen“ a la Jauchs Ankreuzspielchen „Wer wird Millionär“ von dem wirklichen Wissen, das Fakten zueinander in Relation und somit den Denkprozess in Schwung zu bringen vermag, besticht durch Entlarvung eines Schwindels und das mit Humor, für den, der die sardonischen Hiebe auf die Fernsehgesellschaft versteht. Über diese „Millionenshow“-Formate fällt Liesmann im ersten Kapitel das Urteil: „…eine Erscheinungsform der Unbildung.“
Die neoliberale Praxis, also den, wie man hinzufügen möchte „Schawahnismus“ an den Hochschulen und Universitäten, unterzieht er einer vernichtenden Kritik. Das Ranking – Getue, das Protzen der „Bildungseinrichtungen“ mit inhaltsleeren Statistiken und Listen, sie sieht er im krassem Widerspruch zum individuellen Lernen, für das es Zeit zur Durchdringung des Stoffes benötigt, echtes Interesse und Lehrkräfte, die als kompetente Selbstdenker zum Selberdenken anregen, nicht mehr gibt Nie war, nach Liessmann, das Wissen so sehr der Ökonomie untergeordnet und selbst nach diesen Prinzipien organisiert: „Die Tragödie, die sich angesichts der Ideologisierung und Politisierung der Universitäten im vergangenen Jahrhundert ereignete, wiederholt sich gegenwärtig angesichts ihrer Ökonomisierung: als Farce.“
Und immer wieder Nietzsche! Liessman zitiert ihn des Öfteren und Nietzsche – Kennern fällt die Affinität seines Buches zur Denkungsart Nietzsches auf, sodass wir über allem dessen Satz „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“ wie eine kaum lesbare, halb verwaschene Inschrift sehen können („Um diesen Grad und durch ihn dann die Grenze zu bestimmen, an der das Vergangene vergessen werden muss, wenn es nicht zum Todtengräber des Gegenwärtigen werden soll, müsste man genau wissen, wie gross die plastische Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur ist, ich meine jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen. Es giebt Menschen die diese Kraft so wenig besitzen, dass sie an einem einzigen Erlebniss, an einem einzigen Schmerz, oft zumal an einem einzigen zarten Unrecht, wie an einem ganz kleinen blutigen Risse unheilbar verbluten;“)
Pisa-Schock und „Wissensgesellschaft“ – zwei Begriffe, die Liesmann einer Sezierung unterzieht. Er weist nach, wie sehr an diesen Begriffen die Industrialisierung der Bildung festzumachen ist, und nicht, wie gemeinhin behauptet, die Steigerung von Wissen, oder gar die Erlangung von Weisheit. Die „permanente Lernbereitschaft“ verfehlt ihr Ziel, die Weisheit bleibt auf der Strecke: „Die Wissensgesellschaft ist keine besonders kluge Gesellschaft“, schreibt der Autor, und: „Mit dem, was eine andre Zeit „Bildung“ genannt hatte, hat, aller Beschwörung des Bildungsbegriffes zum trotz, das Wissen der Wissensgesellschaft wenig bis gar nichts mehr zu tun.“
Ach ja, der Journalismus. Tatsächlich ist er die Pest des öffentlichen Betriebes – kein noch so namhaftes Blatt, in dem Volontärinnen über intellektuell zu behandelnde Themen das Bauchgefühl sprechen lassen dürfen, wo der Bereich „Panorama“ alles überstrahlt, weil dort nackte Haut, Decadence und reiner Idiotismus den Ton angeben. „Der physische Ekel vor der journalistischen Sprache: Welcher Pädagoge wagte es noch, dies als das erste Bildungsziel des Deutschunterrichts, ja der höheren Bildungsanstalten überhaupt zu formulieren?“, fragt Liesmann und fährt fort: „Gemeint ist nicht nur der Brechreiz, der einen notgedrungen beim Anblick gewisser Hochglanzmagazine befällt, sondern dass sich dieser Reiz auch bei der Lektüre von sogenannten Qualitätszeitungen mitunter einzustellen hätte.“
Das Bildungsbürgertum erscheint als Fake. Der „Bürger“ hat schon immer seine Kinder lieber in die Kaufmannsschule geschickt, als auf die Herausbildung von klassischer Bildung Wert gelegt, meint Konrad Paul Liessmann. Nun, da „die Liquidierung des humanistischen Gymnasiums“ erfolgte, der „bürgerliche Kanon“ verschwand und stattdessen ein „gültiges Nebeneinander aller ästhetischen Äußerungen, mit der Transformation von Kultur in Lebensstil hat sich die einstige bürgerliche Leitkultur in ein schmales Segment der globalen Eventkultur verwandelt, das nicht einmal mehr imstande ist, den Resten bürgerlichen Lebensformen Gestalt und Inhalt zu geben.“ Den besseren proletarischen, so möchte man hinzufügen, ebenfalls nicht. Deshalb ist dem Fazit: „Unbildung ist die authentische Ausdrucksform der Wissensgesellschaft, sie nistet mittlerweile in deren Zentren, sie frisst am Geist überhaupt“, bedingungslos zuzustimmen.
Ein ergänzender Link zum Autor
Ein schönes Urteil vom Autor, der die Besprechung als “pointierte Rezension meiner “Theorie der Unbildung”, die ich mit Interesse und Vergnügen gelesen habe” beschreibt.
Univ. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann
Studienprogrammleitung Philosophie
Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft an der Universität Wien
Kommentar von Campo-News — 27. August 2008 @ 08:25
The Killer in Germany
Kommentar von Campo-News — 2. November 2008 @ 20:39
Die hier unter Punkt 2 geübte Kritik an Kassel, muss ich differenzieren. Inzwischen habe ich die Stadt wesentlich besser kennengelernt und bin z.B. von Bad Wilhelmshöhe oder auch vom hübschen Unigelände - das ich gestern zum ersten Mal sah - angetan. Das Gelände um den “Hauptbahnhof” bleibt mäßig, aber schon der ICE-Bahnhof Wilhelmhöhe macht da einiges wett. Und dann sind da noch die Fulda-Auen, der schöne Straßenbahnverkehr und das Fridericianum…
Kommentar von Campo-News — 6. Juni 2009 @ 07:52
Genau, es kesselt ganz schön im Kessel von Kassel, auf den (Bad)(Wilhemls)Höhen.
Kommentar von Campo-News — 9. Juni 2009 @ 18:20
Siehe auch den obigen Punkt 2 Kasselbande dazu. Grad gefunden -
Die City wie aus Hass gerührt,
der Bahnhof ein Schlamassel.
Leb’ du zur Not in Ulm und Fürth,
doch nie, niemals in Kassel.
Thomas Gsella
Kommentar von Campo-News — 7. September 2010 @ 13:00
Abgesehen von der unzureichenden Interpretation von Zahlen, wird das Wort “knauserig” in ganz und gar falscher Weise gebraucht. Deppen, die das Volk verändern - durch ihre eigene Dummheit - http://www.spiegel.de/wirtschaft/service/0,1518,779703,00.html
Kommentar von Campo-News — 11. August 2011 @ 17:34
Der Studienrat, der heute nicht mehr zu existieren scheint, weil er sich vermutlich erhängte, hat einem gesunden Volkskörper Platz gemacht, den es unbedingt nach Kochbüchern, Skandalbüchern von Politikern und Kinderbüchern verlangt, und die Zeitung, in ständiger Panik um ihre Notwendigkeit wild nach Lesern suchend, keinen verprellen wollend, bespricht das Zeug. - http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,783257,00.html
Kommentar von Campo-News — 30. August 2011 @ 13:19
Dass es in den letzten Jahren nicht immer erstklassigen Schriftstellern, Musikern und Entertainern gelungen ist, sich selbst als Intellektuelle darzustellen, und die große moralische Geste als Inbegriff einer intellektuellen Tugend medienwirksam zu präsentieren, hat zu einer Situation geführt, in der nur mehr verurteilt statt geurteilt wird, in der Bekenntnisse statt Analysen gegeben werden, in der pausenlos irgendjemand sich entrüstet, empört oder schämt, jemanden anderen auffordert, sich zu entrüsten, zu empören, zu schämen oder zurückzutreten, und in der Denken, das eigentliche Metier des Intellektuellen, zur unerwünschten Tätigkeit geworden ist. - http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,790267-2,00.html
Kommentar von Campo-News — 14. Oktober 2011 @ 11:40
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/schlechte-rechtschreibung-analphabetismus-als-ziel-13167836.html
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/leseschwache-schueler-die-neue-klassengesellschaft-a-1183282.html
http://www.pi-news.net/2018/01/bildung-als-provokation-liessmann-klaert-auf/
https://www.focus.de/familie/schule/schulbuecher-und-lehrer-seien-schuld-professor-klagt-an-schulen-sind-vertrottelungsanstalten_id_8496720.html
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/rechtschreibreform-hans-magnus-enzensberger-an-unsere-vormuender-1176944.html
https://homepage.univie.ac.at/konrad.liessmann/Grenze.pdf
Kommentar von Campo-News — 25. September 2014 @ 12:25