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7. Februar 2006

Das Gespenst der Freiheit

Abgelegt unter: Allgemein — Campo-News @ 16:36

Von Tanja Krienen

Das Gespenst der Freiheit

Was haben wir gelacht, damals, als die Araber die Bilder von der Fußball-WM Zeit versetzt übertrugen, damit ihre Stasi-Techniker die Bilder barbusiger Brasilianerinnen heraus schneiden konnten. Wer aber kriegt jetzt Wut, da die Verantwortlichen in den USA bei der Übertragung des NFL-Super Bowl-Finales „The Dirty Rolling Stones“ nicht live zeigten, weil ihre 40 Jahre alten Songs angeblich noch immer nicht für das schwerhörige Ohr des braven Bürgers tauglich seien?

Das Lachen vergeht uns sicher vollständig, wenn wir sehen, wie sehr die Kunst und Kultur in der moslemischen Welt beschnitten wird, und ihre kritischen Künstler und gar ihre Länder verlassen müssen. Gut gemeint, aber letztlich doch zynisch klingend, lesen wir auf SPIEGEL-Online, auch im katholischen Polen dürfe man sicher wohl kaum das Papst-Konterfei manipulieren, aber falls so ein provokatorischer Kunstakt verhindert würde, bliebe ja noch der Protest beim Europäischen Parlament (mit einer Chance nahe Null). Die Möglichkeit, eine übergeordnete Instanz anzurufen, fehle in der arabischen Welt. Welch ein Trost.

Natürlich ist etwas völlig anderes, wenn in der arabischen Welt Bikini-tragenden Frauen nicht gern gesehen oder sogar bestraft werden, und man anderseits Frauen in den USA, deren Slip soweit hoch rutschte, sodass er über der Hose zu sehen ist, mit einem Strafzettel nach Hause schickt. Oder? Sicher sind die Araber viel hundsgemeiner, wenn sie ihre Frauen nicht zum gemeinsamen Rauchen der Wasserpfeife einladen, während bei uns die Zutrittsverweigerung von Männern zu „Frauencafes“ als Akt der Befreiung gilt.

Dort hetzen Staaten oder lassen hetzen – hier kennen wir so etwas überhaupt nicht. Dort dürfen Erwachsene skandalöse Ehen mit Kindern schließen, hier reagiert man hysterisch, wenn geschlechtsreife Jugendliche Sex mit Älteren haben. Dort sind Homosexuelle die Parias der Gesellschaft, hier darf man bald nicht mehr einreisen, wenn man sich nicht sehnlichst ein homosexuelles Kind wünscht.

Es ist sicher ein gradueller Unterschied, wenn dort homosexuelle Jugendliche nach dem Verdacht einer Vergewaltigung eines 13jährigen zum Tode verurteilt werden, aber hier eine Transsexuelle über Monate nur in schlimmster Weise öffentlich geschmäht wird, ohne das die Politik, die Publizistik oder die Justiz von selbst einschreiten. Wer Jude ist, hat es leicht, er hat die Freiheit, die man gewöhnlich nur dem Narren zueignet, weil: er hat ja sonst nichts zu lachen.

Überhaupt ist der drohende Tod etwas, was uns von denen (noch) unterscheidet. Tatsächlich, das ist ein Wert – was nicht heißt, die Staatsanwaltschaft würde hierzulande immer einschreiten, wenn mit Mord oder sonstiger Gewalt gedroht wird. Das macht sie dann, wenn ein „Gegen-Nazi“-Aktionstag ansteht. Aber dort wird schneller verfolgt, mit Bann belegt, ermordet – hier findet nur eine Zensur statt und: die Selbstzensur, - der Tod, der Verschweigung heißt.

Dort ist die Einseitigkeit zu Hause, hier fehlt die Einsicht, dass Gruppen IHRE Wahrheiten pflegen dürfen, aber WIR DAS UNBEDINGTE RECHT HABEN ANDERE WAHRHEITEN FREI ARTIKULIEREN ZU DÜRFEN SOFERN EINE GRENZE GEWAHRT WIRD. Nicht ganz: Raab und Pocher könnten da viel erzählen. Dort geht der Pluralismus in den Kinderschuhen, hier hat er das Rentenalter erreicht. Immerhin: Hoppla, wir leben (noch)! Die Religion drückt, hier zwackt sie nur. Die Nischen sind dort klein, hier hat Multi-Kulti und die schöne Parallelgesellschaft dazu geführt, dass es Bereiche gibt, in den die Nischen ebenso existieren. Wer dort keinen Kameltagesritt von zu Hause fort darf, darf es hier auch schon nicht. Wer dort zum Schleierzwang und durch Sportverbote zur Verfettung gezwungen wird, darf hier noch lange nicht den Körper kultivieren. Wer dort mit 10 zum Entjungfern freigegeben wird, darf hier mit 17 noch lange nichts: „Lach isch oda was? Pass auf, sonst hol ich meinen Broda“. Die hier am Lautesten über jene schimpfen, sind die, die hier zu den Beckmessern der Freiheit gehören.

Die Decke der Zivilisation ist dünn. „Wenn die Masse selbstständig handelt, tut sie es nur auf eine Art: sie lyncht.“ (Jose Ortega y Gasset, 1883-1955). Oder: „Der kleine Straßenauflauf bildet eine Masse, und solche Massen sind ja in fast allen Fällen wie die Urmenschen oder wie die Tiere: sie haben nur ganz wenige Vorstellungen, und zwar nur ganz einfache; sie geben jedem äußeren Reiz nach, und wenn einer gut brüllt, brüllen sie „Ja!“ – und wenn ihnen die Nase an einem nicht gefällt, dann rufen sie: „Haut ihn!“ – und das ereignet sich alles auch dann, wenn es lauter kluge Leute sind, die die Masse bilden, denn sie sind nur einzeln klug; im Augenblick, wo sie sich zusammenballen, ist es aus mit der Klugheit, und sie benehmen sich alle zusammen wie die wilden Kanaken. Das ist ein allgemeines Gesetz, auf der ganzen Erde.“ (Kurt Tucholsky, 1890-1935). Auf der ganzen Erde sagt der Tucholsky: AUF DER GANZEN ERDE! Und: „Nicht ihre Menschenliebe, sondern die Ohnmacht ihrer Menschenliebe hindert die Christen von heute, uns - zu verbrennen“ (Friedrich Nietzsche 1844-1900).

Die Medien krakeelen dort – hier schweigen sie. Sie schweigen wie die meisten „Libertären“, wie fast alle Dekadenten, die immer schweigen, und dies für eine ausgesuchte Handlungsweise halten, statt einer zutiefst ruchlosen.

Von welcher Welt sprach Adorno, als er schrieb: „Die Wut entlädt sich auf den, der auffällt ohne Schutz. Die bloße Existenz des anderen ist das Ärgernis. Jeder andere „macht sich breit“ und muß in seine Schranken verwiesen werden, die des schrankenlosen Grauens…Der als Feind erwählte wird schon als Feind wahrgenommen…Die Spielmarke wird aufgeklebt: jeder zu Freund oder Feind. Stets hat der blind Mordlustige im Opfer den Verfolger gesehen…Regungen die vom Subjekt als dessen eigene nicht zugelassen werden und doch ihm eigen sind, werden dem Objekt zugeschrieben: dem Opfer. Im Faschismus …wird das Objekt…realitätsgerecht bestimmt, das Wahnsystem zur vernünftigen Norm in der Welt, die Abweichung zur Neurose gemacht…Das in Aggression umgesetzte verpönte ist meist homosexueller Art. Aus Angst vor der Kastration… rückt er dem anderen als Verfolger auf den Leib.“

4 Kommentare »

  1. Ja, Da stimme ich prinzipiell zu. Das elende internationale Gewackele zwischen den Normen ist dennoch nicht produktiv und wird es allerdings durch diesen Beitrag auch nicht viel mehr. Wer Multikulti prädigt, muss Intoleranz schlucken, sofern er es denn ernst meint; nicht alle Leute sind solche Pizza-Ethnologen wie man selbst: nicht jeder begnügt sich damit, von der anderen Kultur das Essbare zu verspeisen und den Rest für Fiktion zu erklären.

    Aber, Frau Krienen, Sie meinen das ja wieder halb autobiographisch. Man muss da ja bei Ihnen nicht nur zwischen den Zeilen lesen, und man liest: Sie fühlen sich ungerecht behandelt, und insbesondere die Kindergeschichte liegt Ihnen auf der Seele. Verständlich. Man hat Sie da konzentriert missverstanden.

    Ich kann Ihnen immerhin mitteilen, dass ich persönlich mich bemüht habe, Sie zumindest in diesem Punkt zu entlasten. Es ist mir nicht gelungen. Die vielfältigen Hits bei Google machten es schier unmöglich. Ich verstehe das nicht, aber momentan wird es denn eben so ausgelegt. Die Leute lesen nicht das, was Sie geschrieben haben, sondern dass, was die Aneinanderreihung der vorhandenen Schlagworte ergab.

    Sehr bedauerlich.

    Kommentar von Y. — 8. Februar 2006 @ 02:00

  2. Sie weichen da arg vom Thema ab, und kein Autor würde sich da privat so festklopfen lassen, weil Texte für sich stehen.

    Dennoch: Ich kann z.B. von der italienischen Kultur mehr adaptieren als Pizza-Essen. Darum geht es aber nicht, sondern nur um den Sachverhalt, dass nur Handlungsweisen zu akzeptieren sind, die innerhalb einer gewissen Spannbreites des modernen und zivilen Rechts stehen.

    Tatsächlich liegt mir keine “Kindergeschichte auf der Seele”, sondern nur eine Klarstellung; eine Klarstellung, die ich schon xmal abgab - aber in einem autoritären oder aufklärungsfeindlichen Klima mit verhetzen Leuten, kommt das nicht an. Es soll halt eine Kampagne erfolgreich durchgeführt werden, da kann man auch xmal betonen, dass sich gerade die Gegenseite mit denen ins Bett legt, die sie vorgibt abzulehnen - es kommt nicht an! Salopp gesagt: Wo die Niedertracht oder der Faschismus (nicht der wirkliche, der italienische, der ist ja differenziert zu beurteilen) blüht, da herrscht die Epidemie einer bösartigen Dummheit. “Wer dumm und böse ist, rennt ins Verderben”, meinte Kästner. Hoffen wir es, die Zeichen stehen nicht schlecht.

    Kommentar von Campo-News — 8. Februar 2006 @ 08:42

  3. Genau: Lebenslang wegsperren, aufhängen, auspeitschen, vierteln, Todeszelle - im Namen der Freiheit

    USA: Erstklässler von Schule suspendiert, weil er Schülerin unter das Hemd fasste

    Im US-Bundesstaat Massachusetts wurde ein 6-jähriger Junge aus Brockton drei Tage von seiner Grundschule suspendiert, weil er einem Mädchen während des Unterrichts unter das Hemd fasste.

    Der Erstklässer selber behauptet, dass das Mädchen angefangen habe, seine Haut zu berühren. Er habe darauf reagiert und dasselbe getan. Dann habe sie sich gemeldet und dies dem Lehrer erzählt.

    Seine 38-jährige Mutter versuchte alles, um eine Suspendierung zu verhindern. “Er weiß doch nicht mal, was sexuelle Belästigung ist. Er ist erst sechs Jahre alt”, so die Mutter.

    Kommentar von Campo-News — 9. Februar 2006 @ 10:40

  4. Daraus ist eine neue Kolumne geworden -

    https://www.huffingtonpost.de/entry/wm-2018-fifa-will-keine-nahaufnahmen-von-fans-das-ist-der-grund_de_5b49c805e4b0bc69a7877b5b?yz9

    Kommentar von Campo-News — 25. Februar 2006 @ 13:29

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