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23. März 2005

AMOKKOMA

Abgelegt unter: Allgemein — Campo-News @ 08:34

Es muss eigentlich verwundern, dass Amokläufe so selten geschehen.

Der Mensch darf in einer zivilisierten Gesellschaft auf das verbriefte Recht hoffen, Recht zu bekommen, wenn er es hat. Es häufen sich jedoch in einer radikalisierten Gesellschaft Ungerechtigkeiten, anders motivierte Abstrafungen und vor allem: die Sprachlosigkeit.

Letztere tritt in unterschiedlichem Gewand auf. Mal als Schweigen innerhalb der Familie, ein anderes Mal als ein Wegsehen vor offensichtlichen Problemen, sehr häufig aber wird die Kommunikation nach Anfragen, Appellen zur Stellungsnahmen usw. verweigert, obwohl dieselbe Befragten sonst stets herauskehren, sie seien kommunikativ und demokratisch.

Es gibt Unrecht, dass wird bewusst von Dritten herbei geführt wird – alle schauen zu. Es gibt Unrecht, dass geschieht durch eine Gemengelage, dass das Weltall beben müsste. So vielleicht bei dem 15jährigen Attentäter aus den USA, dessen Verletzungen an Geist und Seele ihn zum „Todesengel“ und zum Hitler-Fan mutieren ließ. Sofern es stimmt, was kolpotiert wird, sofern überhaupt etwas in Form einer Ursache und Wirkung nachvollziehbar werden kann.

Im Anhang Lutz Rathenows Aufsatz über Robert Steinhäuser aus dem CAMPO Nr. 6.

Tanja Krienen

“Die Kunst ist nicht die wertvollste Lebensäußerung. Das Leben ist weit interessanter” Tristan Tzara

10 Vorwürfe an einen Amokläufer

Betrogen fühlen sich:
- Der gesunde Menschenverstand
- Die Justiz
- Sozialarbeiter und Psychologen
- Die Polizei
- Die Religion
- Die Psychiatrie
- Die Naturwissenschaften
- Die Revolutionäre
- Die Vernunft
- Die Versicherungen

Der Amoklaeufer handelt ohne jeglichen Zweck…
Seine Blindheit vergeht sich am Versprechen der
ausgeglichenen Schlussbilanz, setzt die Hoffnung, dass die Rechung,
anders als im Leben, im Tod aufgehen möchte.
Er erschütterte die Relation der Verhältnismäßigkeit…
Nicht umsonst verlegt die Religion die große radikale,
verhältnismäßige Abrechnung zeitlich nach dem Weltuntergang.

Der Amokläufer begegnet nur jenseitigen Lügen. Er ist beliebig wie seine Opfer, steht quer zu allen Ursache-Wirkungsketten. Der Alltag ist banal, banal wie ein Mord aus Gewinnsucht. Der Amokläufer explodiert nach allen Seiten, wartet nicht, wägt nicht ab; Ästhetik und Moral liegen nicht im Blut…Die Grenzüberschreitung ist kein Abenteuerurlaub, der Amokläufer lebt oder stirbt (so oder so) in einer hiesigen Stadt. - Das Wagnis ist total. Es geht um den Körper.

Die radikale, rapide Wendung des Amokläufers, mit der er sich aus dem Konsens und der Situation entfernt, MUSS eine Vorgeschichte haben, weil nichts und niemand frei ist solche Wandlungen zu vollziehen…(Es ist) das beunruhigende Eingeständnis, dass es eine Nachtseite gibt, die auf demselben Planeten wurzelt, ohne Sinn wie die Natur, ungebändigt zufällig und auflösend. Die Maßlosigkeit und Zweckfreiheit der Aggression hebt den Amokläufer aus seinem bisherigen Leben unwiderrufbar heraus, das nun zum Feld wird, das nach Verboten erforscht wird. Ob dabei bisweilen auch der Sinn gefunden wird, der angeblich durch die Tat gebrochen wird, bleibt unbenannt.

Natürlich ist der Amokläufer keineswegs ein Held.

Aus “NEHMEN SIE DADA ERNST !”

Amok in Erfurt

Eigentlich geht es nur um ein Buch. Das heisst „Für heute reicht`s“ und beginnt verhalten.
Eine eher stille, intensiv beschreibende Literatur. In einer Berliner Schauspielschule erfährt eine Elsa, kurz zuvor noch Schülerin, dass etwas an ihrem alten Gutenberg-Gymnasium in Erfurt nicht stimmt. Etwas Schlimmes scheint geschehen zu sein.Wie sie die eine Schule verlässt um die andere aufzusuchen., Beobachtungen, Rückblenden, die Zugfahrt - das könnte der Auftakt für eine Erzählung voller sich allmählich aufbauender Spannung sein. Das Ungeheuerliche sticht in Handy-Botschaften und aufgeschnappten Sätzen auf Elsa ein. Sie kommt in Erfurt an, trifft Freunde, versucht zu begreifen. Ihr Mitschüler Robert Steinhäuser tötete 16 Lehrer und Schüler und richtete sich dann selbst. Die Dramatik offenbart sich manchmal in abseitigen Details. Elsa trifft ihre Eltern, die Mutter sieht gerade fern: „ Elsas Mutter schaut kaum auf, „hab schon das Schlimmste befürchtet.“„Was denn ?“fragt die Tochter. „Ach weißt du, zwischendurch hab ich heute mal gedacht, du seihst das alles gewesen.“.

Eigentlich geht es der Autorin Ines Geipel um die schreckliche Bluttat eines Erfurter Schü-lers, der sich am 26.4.2002 mit der größten Mordserie seit 1945 in Deutschland nicht nur in die Kriminalgeschichte schoß. „Amok in Erfurt“ nennt sich der Untertitel des Bandes.Dabei zeigt die in Dresden geborene Autorin klar :ein Amoklauf war dieser Massenmord nicht. Massenmord, was für ein Wort, in dem jedes Opfer noch nach seinem Tod in dem Begriff „Masse“ verschwindet. Steinhäuser plante die Hinrichtung seiner Lehrer nach seinem begründeten (aber in der Form problematischen) Abgang vom Gymnasium monatelang. Er trainierte, munitionierte sich mit gespenstischer Zielstrebigkeit auf. Als wolle er, der Schulversager, der Welt beweisen, es auf einem Gebiet zur Perfektion zu bringen .

Ines Geipel hat selbst eine interessante und spannungsvolle DDR-Geschichte und spürte in mehreren Büchern der Zerstörung menschlicher Existenz Ihr letztes setzte sich mit Doping auseinander. Ob es um das Verhältnis von Macht, Erfolg und Körper im DDR-Sport geht oder ob sie sich den Biografien von im Suizid endenden Frauen, sie fühlt sich den Gefähr-deten und Gescheiterten nahe.Ein Buch schreibt sich an das Leben und Sterben Inge Mül-lers heran, eine grandiose Dichterin und die erste Frau des Dramatiker Heiner Müllers.

Eigentlich setzt das neue Buch nur das Thema einer Autorin konsequent fort. Die in Berlin lebende Schriftstellerin will diesem Erfurter Massaker auf den Grund gehen und Gründe dafür ausleuchten. Und zwar auf philosophischer, soziologischer, psychologischer und simpel kriminaltechnischer Ermittlungsebene gleichzeitig. Das macht den Band „Für heute reichts“ brisant und anregend., Aber auch ungenau und angreifbar. Elsa begleitet den Leser bis zum Schluß und wird doch blass und entbehrlich. Ines Geipel schreibt zwischen Essay und Reportage an gesellschaftliche Störungen heran. Sie haben mit versagter Anerkennung Jugendlicher, Leistungsdruck und auch dem doppelten Druck auf den Schülern nach dem Ende der DDR zu tun.

„Einerseits hatten sie der ungebrochenen Anpassungsmentalität ostdeutscher Lehrer Paroli zu bieten….andererseits gab es plötzlich die westdeutsche Leistungsschule mit ihrer Bevorzugung der funktionalen Intelligenz:“

Die Eltern sind beschäftigt, aus DDR-Zeiten eingeübten Verhaltens- und Überlebens-konzepte taugen für die neue Situation nicht: „Die spezifische Identitätsschwäche der Elterngeneration verlängert sich in den Jahren der politischen Neuordnung in Ostdeutschland – in der Zeit also, da Robert Steinhäuser nächtelang vor dem Computer sitzt – wirkmächtig in die Kinder hinein.“

Solche klaren Sätze werden dann an anderen Stellen des Buches immer wieder relativiert oder zurückgenommen. So vollführt es ein wenig das, was nach Ines Geipel der leistungs-schwache Schüler Steinhäuser die letzten Schul-Jahre machte: er switcht sich so durch. Denn neben der speziellen Ostprägung spielt jene der globalen virtuellen Welt garantiert eine Rolle. Die Autorin skizziert neuartige Riten von Kommunikation und Macht, von Abhängigkeit und Gier - diese Welt der Internet-Parties und Spiele, oft begleitet von Drogenkonsum. Auf Seite 68 wird auf die genetische Veranlagung zur Schizophrenie in Steinhäusers Familie verwiesen. Der in neuen Forschungen behauptete Zusammenhang von Drogen als Auslöser solcher Erkrankungen bei genetischer Disposition bleiben leider unerörtert. Dafür werden Zusammenhänge von der virtuellen Welt und der DDR vermutet: “ Für die Jugend des Ostens wird das Internet in den neunziger Jahren etwas wie der Transmitter zwischen Alter und neuer Zeit. Dort wird das Nichtsprechen der Eltern und Lehrer umcodiert in eigene Sprachen. Dort hat die Welt…noch eine gewisse Ordnung. Dort braucht es keine Vermeidungs- und Ausweichstrategien. Dort spricht man aus, was radikal macht.“

Solche und andere Stellen im Buch akzeptieren viele Schüler und Lehrer am Gutenberg-Gymnasium heute nicht. Sie protestierten nicht nur bei einer überfüllten Präsentation in einer Kirche gegen Buch und Autorin. Sie möchten nicht als permanent kiffende, schul-frustrierte potentiell Gewaltbereite dargestellt werden. Elsa im Buch drückt eine Stimmung aus, von der sich Schüler verletzt fühlen. Das ist eine ernst zu nehmende Kritik an der Kompetenz der Autorin, zumindest was die Verarbeitung des Geschehenen nach dem Attentat betrifft. Andererseits wird unzweifelhaft verdrängt. Eine Schülerin einer anderen Erfurter Schule mailte mir, dass sie in den Monaten nach dem Schreckenstag unter Schülern häufiger den Spruch hörte „Da könnte ich glatt zum Robert werden.“

Der letzte Tag Robert Steinhäusers wird im Buch beklemmend intensiv erzählt. Wie er sich Raum für Raum durch die Stockwerke der Schule schießt. Immer auf der Suche nach Leh-rern. Wie er durch die Pause aus dem Tritt kommt und planloser feuert. So auch Schüler trifft und tötet. Wie manche Opfer noch stundenlang leben, der Biologielehrer Hans Lippe sich schreiend und schwer verletzt über eine Stunde durch die Schule schleppt. – und ver-blutet. Aus Angst vor dem möglichen zweiten Täter stürmt das SEK nicht, im nachinein ein klarer Fehler.

Und spätestens an dieser Stelle gerät der Band zum Politikum. Er bietet der Öffentlichkeit eine Diskussion über das Versagen der Einsatzkommandos und die Hilflosigkeit der Politik danach an. Ein Anwalt taucht auf, der seit Monaten klagen will. Vieles wirkt hastig gedacht und gefragt. „Warum darf es keine Fehler gegeben haben? Warum muss das Ganze in dieser Weise beschwiegen werden?“ heisst es auf S. 237. Die Antwort kennen Autorin und Leser aber schon. Warum schweigen nicht nur Politiker bei heiklen Dingen gern? An sich interessante Exkurse zum Konzentrationslager Buchenwald und zur Jenaer Euthanasie in der Nazizeit helfen beim Nachdenken über Verdrängung heute nicht wirklich weiter. Denn punkte Erfurt läuft ja das Verschweigen in einem Meer von Geschwätz und Hilflosigkeit. Und versuchter Rücksicht auf die Opfer. Manche Opfer lebten nach den Schüssen noch und hätten, laut Ines Geipel, vielleicht gerettet werden können. Wirklich? Die Einsatzleitung vermutete ja einen zweiten Täter und stürmte nicht. Die Autorin geht anhand der Polizeiakten nah an die Vorgänge heran. Und bleibt doch die hinterfragenden Recherchen der Akten aus heutiger Sicht schuldig. . Hätten die nicht sofort verstorbene Opfer bei schnellerer Rettung wirklich eine Chance gehabt? Da müsste man sich in quälende medizinische Details ver- tiefen. Und was ist nun mit dem immer wieder herbeizitierten zweiten Täter aus den Zeugenaussagen? Letztlich glaubt Ines Geipel so recht auch nicht an den Mister Unbekannt. Aber präsentiert ihn so, dass er neu durch die Medien spukt. Und von den wichtigeren Themen ablenkt. Kein Wunder, dass dem Buch kalkulierte Unbeholfenheit als spekulations- und verkaufsfördernde Methode vorgeworfen wird.

Der Text täuschte ja am Anfang einen Roman vor. Doch die Literarisierung lenkt immer mehr von den Fakten ab und erleichtert eine Beliebigkeit der Reflexionsebenen. Die in Berlin lebende Schriftstellerin will dem Erfurter Massaker auf den Grund gehen und wirbelt viele mögliche Gründe auf. Als Buch scheitert die Mischung aus Belletristik und Sachbuch, aus Recherche- stück und soziologisch-philosophischem Essay. Aber es ist ein Scheitern auf interessantem Niveau mit anregenden und verblüffenden Aspekten. Als Beitrag zur Rolle der Gewalt in unserer Gesellschaft ist es sehr zu empfehlen. Ines Geipel geht es nicht um rasche Antworten. Sie will ein Labyrinth von Fragen bauen, aus dem sich der Einzelne nicht so schnell entlassen kann. Zumindest das gelang ihr.

Ines Geipel: Für heute reicht`s. Amok in Erfurt, Rowohlt Berlin, 256. Seiten, 16, 90 €.

Lutz Rathenow, in seinem neuen Buch „Fortsetzung folgt. Prosa zum Tage“ findet sich auch ein kurz nach der Tat geschriebener und im DLF Köln gesendeter Essay zu dieser Tat.

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