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14. März 2005

Ost-Berlin. Leben vor dem Mauerfall

Abgelegt unter: Allgemein — Campo-News @ 16:07

Von Günter Jeschonnek

Fast 20 Jahre nach der spektakulären Erstveröffentlichung und Beschlagnahmung des Buches „Ostberlin - die andere Seite einer Stadt“ während der Leipziger Buch-messe 1987 kündigt jetzt der Berliner Jaron Verlag das erweiterte Remake des Kultbuches unter dem neuem Titel „Ost-Berlin, Leben vor dem Mauerfall“ an. Neu sind der gestraffte Prosatext (auch in englischer Übersetzung), das Vorwort Lutz Rathenows über die Entstehungsgeschichte des Bandes und bisher unveröffentlichte Fotos Harald Hauswalds, die neue Einblicke in das Ost-Berlin der 80er Jahre ermög-lichen. Rathenow im Vorwort: „Das Buch ‚Ost-Berlin’ war mehr als ein Buch. Es war eine Art der Liebeserklärung an eine Stadt, die wir zugleich als Hälfte einer geteilten Stadt und doch als ein neues Ganzes wahrnahmen. Wir liebten Ost-Berlin und lehnten die Regierung ab, die es als Hauptstadt eines 1949 neu gegründeten Staates ansah.“

Es gibt viele spannende Geschichten um das Buch, die nicht weniger brisant als der Text und die Fotos selbst sind. Nach der neuerlichen Lektüre ist nachzuvollziehen, warum die DDR-Führung das Erscheinen des Buches unter allen Umständen ver-hindern wollte: es wirkte wie eine Blendung.

“…Der Reiz der politischen Losungen, die Ekel erzeugen. Nie bist du allein. Noch die abblätternde Parole erreicht dich als zitternder Zeigefinger…Alles an den Westen verkaufen, außer die Hauptstadt. Die hat dann keine Devisenprobleme mehr…“

Derartiges wollte sich auch das für Kulturfragen zuständige SED-Politbüromitglied Hager nicht bieten lassen, stimmte einem Reiseverbot in den Westen zu und wies über das Außenministerium der DDR Bonner Stellen darauf hin, „…daß die Ver-öffentlichung des Buches im Piper-Verlag ein unfreundlicher Akt gegen den im Kulturabkommen ver-einbarten Kulturaustausch DDR-BRD ist…“. Vor den 750-Jahr-Feierlichkeiten in Ost-Berlin sollte von den innenpolitischen Spannungen und dem anachronistischen Umgang mit Gorbatschows Perestroika abgelenkt werden. Dabei störte das „feindselige“ Buch empfindlich. Gutachter des Ministeriums für Kultur verfassten Stellungnahmen, um die Kriminalisierung beider Autoren zu legalisieren: „Von Positionen des kritischen Beobachters werden mit Hilfe einer gefälligen, ein-gehenden Sprache Untypisches und Halbwahrheiten aneinandergereiht und beim Leser Gefühle der Leere, Vereinsamung und Hoffnungslosigkeit suggeriert; triste und fade Atmosphäre, allgegenwärtige Polizei und Staatssicherheit…Das staatliche und gesellschaftliche System der DDR ist Zielscheibe ständiger Angriffe… “.( Einer der Gutachter, Dr. Reimann, war nach der Wende Leiter der Kulturprojekte vom Bertels-mann Buch-Club. Heute organisiert der einstige SED-Funktionär das Begleitpro-gramm der Frankfurter Buchmesse „Leseland Hessen“. Es wäre aufschlussreich, Rathenow und Hauswald im Herbst 2005 zum Streitgespräch dorthin einzuladen…)

Hauswald zog 1976 von Dresden in Hauptstadt der DDR und Rathenow kam 1977 aus Jena. So lernten sie Ost-Berlin aus der Perspektive Zugereister kennen und beobachteten sensibler als andere das alltägliche Leben in der von Mauer und Todesstreifen umbauten Stadt. Die ambivalente Mixtur Ost-Berlins aus Staatstragen-dem, stinknormalem Alltag, Nischen für Unangepasste, Gescheiterte, subversive Künstler und autonome Lebensentwürfe, lieferte beiden vielschichtiges Material – auch über die DDR, die in Ostberlin ihr „Schaufenster“ installierte.

Dabei wurde keines der im Buch veröffentlichten Fotos gestellt oder manipuliert – doch die Stasi wollte, wie so oft, die Tatsachen zur Fiktion verdammen. Umso mehr, als ihre wachsamen Zuträger registrierten, dass Rathenow und Hauswald eine Art „politischen Sport“ entwickelten, um den längst angeschlagenen SED-Staat mit ihrem Buch bloßzustellen. Das war zwar nicht ungefährlich, aber ihr Bekanntheitsgrad im Westen schützte sie. Rathenow las in der DDR in Kirchen und Wohnungen; in die Ost-Berliner Gethsemanekirche drängten 700 Sympathisanten. Radiosender brachten Lesungen, die Rathenow im ARD-Studio aufnahm. Über ausgereiste Freunde, Journalisten und Verlagsmitarbeiter wurden im Westen Ausstellungen organisiert und zum großen Ärger der SED-Genossen berichteten auch die West-zeitungen über das Buch. Ohnmacht und Wut der Staatssicherheit steigerten sich. Im März 1987 tauchte der „Literaturfürst des Prenzlauer Bergs“, Stasi-Spitzel Sascha Anderson, zur ersten West-Berliner Präsentation in der Galerie „Pommersfelde“ auf, um die Besucher zu identifizieren und über deren Resonanz zu berichten. Schließlich zitierte im April 1987 das Ministerium für Kultur Rathenow zu sich, um ihn zu ermahnen und indirekt die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft DDR anzubieten. Er lehnte ab.

( Umso überraschender war für Rathenow, dass er zwei Jahre später erstmalig in den Westen reisen durfte, um in Wien den Jörg-Mauthe-Preis für seine Kurz-Prosa entgegenzunehmen. Laudator Günter Nenning pries ihn mit den Worten: „Vergessen Sie die DDR. Lesen Sie die Prosa von Lutz Rathenow über Ost-Berlin…“. Der DDR-Kulturattaché verließ daraufhin empört den Saal, aber der Ausgezeichnete kehrte nach Ost-Berlin zurück. Ein halbes Jahr später fiel die Mauer.)

Das Buch mit Hauswalds suggestiven Fotos und Rathenows ironisch-poetischem Text hat die DDR überlebt und ist zur Leipziger Buchmesse endlich allen zugänglich. Nach wie vor ist das unverwechselbare Psychogramm Ost-Berlins für Geschichts-bewusste, Berlin-Fans und besonders für jüngere Leserinnen und Leser eine Ent-deckung. Wer heute fragt, was das Besondere dieser bizarren Stadt war und wie die Menschen miteinander und nebeneinander lebten, wird im Buch überraschende Antworten und Erstaunliches über eine fast verschwundene Welt finden.

Harald Hauswald(Fotos) / Lutz Rathenow (Text)
Leben vor dem Mauerfall / Life before the Wall fell
Broschur, 128 S., 120 Fotos
Jaron Verlag; Berlin € 12

Mit freundlicher Genehmigung von Lutz Rathenow und Günter Jeschonnek

2 Kommentare »

  1. http://www.spiegel.de/einestages/reklame-vor-und-nach-dem-mauerfall-a-1004273.html

    Kommentar von Campo-News — 28. November 2014 @ 11:45

  2. Tanja Krienen Kai Schirmer Großer Gott! In der DDR war alles klein, miefig, stümperhaft, verschlossen, verdruckst, schwer verständlich, falsch, halbgar und nicht nur hinterm Mond, sondern hinterm Mars, kurz vor dem Merkur.

    Kai Schirmer Schwachsinn. Das zeigt nur Unkennntnis und Ignoranz.

    Tanja Krienen Kai Schirmer Im Gegenteil. ICH kenne die DDR sehr sehr sehr genau und DARUM fremdelst du. Die meisten Leute schweigen heute, weil sie nichts wissen oder politische Rücksichtsnahme üben, um Wähler nicht zu verprellen. DARUM haben wir heute den Linksstaat.

    https://www.saechsische.de/der-unersaettliche-vom-sonnenberg-2914362.html

    Kommentar von Campo-News — 12. Oktober 2017 @ 08:33

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