Wer schoss in Fürstenfeldbruck?
Bei der Chemnitzer Veranstaltung trug der Kriminalist und ehemalige Bundestagsabgeordnete Manfred Such auch seinen Artikel aus der „Ossietzky“ (Herausgeber Eckart Spoo) über die Ereignisse während der Olympischen Spiele 1972 vor. Dieser brisante Artikel birgt eine Menge Zündstoff, denn auch im „Jubiläumsjahr“ Nr. 50, zeigten sich die Medien wieder unisono schmallippig, was ganz bestimmte Vorgänge der traurigen Abläufe angeht. Hoffen wir, dass der Schneeball der Erkenntnisse weiter rollt und Details vorurteilsfrei irgendwann einmal beleuchtet werden. Dieser Artikel ist ein MUSS!
Ich erlaube mir ein Zitat von Guy Debord voranzustellen: „Polizei- und Mediengerüchte nehmen augenblicklich, schlimmstenfalls nach drei- oder viermaliger Wiederholung, das unbestrittene Gewicht jahrhundertealter historischer Beweise an. Klandestine Organisationsformen militärischen Typs bringen es unvermeidlich mit sich, dass es lediglich einiger weniger Leute an bestimmten Punkten des Netzes bedarf, um viele an der Nase herumzuführen und schließlich umfallen zu lassen….
Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels (1967)
Wer schoss in Fürstenfeldbruck?
Von Manfred Such
Mehr als 7 Jahre sind vergangen, seit mein 2015 in der Zweiwochenzeitschrift “Ossietzky” veröffentlichter Beitrag über das Massaker während der Olympischen Spiele in München 1972 auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck erschienen ist.
Mit dem 50. Jahrestag des terroristischen Überfalls auf die israelische Olympiamannschaft hat das Thema eine erneute Aktualität in den Medien gefunden und das Thema mit dem Staatsversagen der Bundesrepublik und der Entschädigung der Hinterbliebenen der Opfer in Verbindung gesetzt.
Gleichzeitig wurde ein zelebriertes Gedenken in Fußballstadien genutzt, um, an den tatsächlichen Hintergründen des Terroranschlages vorbei, sich von Rassismus und Antisemitismus in Deutschland zu distanzieren.
Aus Anlass des 50. Jahrestages habe ich im Chemnitzer Kabarett im Rahmen von “Die Ungezähmten, Bis hierher und dann weiter” - Musik und Lesung-, aus dem o. a. Ossietzky Beitrag gelesen und ergänzt und der Beitrag hat, gemäß der Chemnitzer Lesung und Rede, eine neue Gewichtung bekommen:
Mehr als fünf Jahrzehnte sind seit den Olympischen Spielen in München und dem Massaker auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck vergangen. Über meine damaligen Wahrnehmungen habe ich anfangs in der Öffentlichkeit geschwiegen. Warum?
Unmittelbar nach meiner Beteiligung an den Obduktionen der Opfer von Fürstenfeldbruck hatte ich Sorge, meine Dienstpflichten als Polizeibeamter zu verletzten, und mir fehlte damals noch jede Erfahrung im Umgang mit Medien.
Obwohl ich noch relativ zeitnah über meine Erfahrungen und Feststellungen bei den Obduktionen mit befreundeten bzw. bekannten Journalisten berichtet hatte, gab es von dieser Seite offenbar leider nur oberflächliche Nachforschungen.
Die Darstellungen der Verantwortlichen aus dem Münchener Polizeipräsidium und dem bayrischen Innenministerium wurden für glaubhaft gehalten, wie mir auf Anfragen bei Stern und Spiegel versichert wurde.
Es bestand kein Interesse mehr an dem Thema, so daß ich schwieg.
Als Sprecher der von mir mitgegründeten Arbeitsgemeinschaft der “Kritischen Polizisten”, als deren Sprecher und als MdB bei den Grünen, war für mich das Thema, insbesondere nach den “journalistischen Recherchen”, tabu.
Dem Vorwurf, das Thema oder mich inszenieren zu wollen, wollte ich mich nicht aussetzen.
Die naheliegende Frage, warum der Beitrag dann 2015 bei “Ossietzky” * erschienen ist, hängt mit einem Gespräch zusammen, das ich mit einem der Herausgeber der Zweiwochenzeitschrift, dem früheren Redakteur der Frankfurter Rundschau Eckart Spoo privat hatte, der das Thema den Ossietzky-Lesern nicht vorenthalten wollte.
Was war geschehen?
1972 befand ich mich als Kriminalobermeister in der Kommissarausbildung beim Polizeipräsidium Bochum. In der Zeit vom 18. August bis zum 11. September wurde ich als Sachbearbeiter für “Vermisste, unbekannte Tote” zum Polizeipräsidium München abgeordnet.
Während der Olympischen Spiele ergaben sich aber für mich anfangs kaum dienstliche Aufgaben. Die Dienstzeit, die ich dort verbrachte, könnte man als “Anwesenheit” bezeichnen.
Mein Interesse galt den Arbeitsabläufen in der Behörde während der großartigen Spiele und natürlich den Spielen selbst.
Die Meldung über das Attentat erreichte mich während meiner Freizeit. Sie packte mich besonders stark, weil meine damalige Freundin und heutige Frau als Mitarbeiterin des “Zivilen Ordnungsdienstes” im Olympiadorf der Frauen eingesetzt war. Eine schick getarnte Kriminalbeamtin!
Sie, wie ihre männlichen Polizeikollegen, die anstelle einer Polizeiuniform in ein türkisfarbenes Outfit mit weißem Käppchen und weißen Schuhen bekleidet, sollten den Spielen ein fröhliches Aussehen verleihen.
Nach dem Überfall auf die israelische Olympia-Mannschaft war meine Frau eine der Ersten, die den Geiselnehmern direkt gegenüberstand. Sie ließ sich dann gegen eine vermeintlich für solche Situation besser geeignete Kollegin austauschen. Wir verbrachten den Tag damit, die Nachrichten über das Attentat zu verfolgen.
In der Nacht meldete der Rundfunk, die Geiseln seien lebend befreit worden. Mit dieser Nachricht im Kopf begann ich am Morgen meinen Dienst im Präsidium.
Hier erfuhr ich von dem Massaker auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck: Alle Geiseln sowie die Terroristen seien getötet worden. Die Leichen, auch die eines im Olympiadorf getöteten israelischen Sportlers, befänden sich in der Gerichtsmedizin. Mir wurde befohlen, zwecks Spurensicherung an den Obduktionen teilzunehmen.
Mit einem jungen Kollegen aus Dortmund wurde ich zum angeblich Gerichtsmedizinischen Institut gefahren. Als Ortsfremde konnten wir nicht beurteilen, ob das Gebäude, das auf mich den Eindruck einer Villa im Baustil der Gründerzeit machte, tatsächlich eine Abteilung der Münchener Gerichtsmedizin war. Im Flur im Eingangsbereich des Gebäudes sah ich mehrere vom Feuer entstellte Leichen (typische sogenannte Fechterstellung bei Brandopfern) wie achtlos auf dem Boden abgelegt. Ein solches Szenario war mir aus den mir bekannten gerichtsmedizinischen Abteilungen noch nicht begegnet.
In einem kleinen Obduktionsraum war die Leiche eines erschossenen Polizisten in Uniform aufgebahrt.
Anwesend waren der Obduzent, zwei Gehilfen und neben uns beiden aus Nordrhein-Westfalen ein oder zwei weitere Kriminalbeamte. Der Dortmunder machte Fotoaufnahmen.
Die Obduktion begann an der Leiche des Polizeihauptmeisters Anton Fliegerbauer, der einen Einschuss über der Nasenwurzel hatte. Aus der Leiche wurde mir ein Projektil, Kaliber-9 mm übergeben, das ich in einer kleinen Plastiktüte sicherstellte.
Ebenso sicherte ich Projektile aus weiteren, teilweise durch Verbrennungen entstellte Leichen. Die genaue Anzahl der Projektile weiß ich nicht mehr und kann auch nicht mehr angeben, ob aus allen Leichen Projektile gesichert wurden. Ich erinnere mich aber genau, dass mir ausschließlich 9 mm-Projektile übergeben wurden und dass alle dasselbe Kaliber hatten: Neun Millimeter!
Unter den Beteiligten kam voller Entsetzen die Frage auf, die auch ausgesprochen wurde: Waren etwa sowohl Täter als auch Opfer des Attentats mit der gleichen Munition getötet worden? Aus welchen Waffen? Von wem?
Diese Fragen wären bei einer kriminaltechnisch (Schusswaffenerkennungsdienst) und rechtsstaatlich einwandfreien Untersuchung relativ leicht zu klären gewesen.
Die damals bei der Polizei üblichen Pistolen und Maschinenpistolen hatten das Kaliber- 9 mm. Die Terroristen waren, soweit mir bekannt, mit Maschinenpistolen der Marke Kalaschnikow, Kaliber- 7,62 mm, bewaffnet.
Projektile dieses Kalibers habe ich bei der Spurensicherung nicht erhalten.
Die Durchführung eines Schusswaffenerkennungsdienstes wäre aufgrund der sichergestellten Projektile und der vorhandenen eingesetzten Waffen der Polizei und der Terroristen nicht nur möglich, sondern auch dringend erforderlich gewesen, um jedes vorhandene Projektil durch einen Vergleichsbeschuss einer Waffe zuordnen zu können. Ausführungen über den Schusswaffenerkennungsdienst erspare ich mir an dieser Stelle.
Ein Fazit wurde in meiner Anwesenheit nicht gezogen, ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern.
Aber so viel stand fest: Alle Schussverletzungen der in meiner Anwesenheit obduzierten Leichen konnten nur durch 9 mm-Projektile verursacht worden sein. Andere habe ich nicht sichergestellt.
Während meiner Teilnahme an den Obduktionen wurden mehrere Leichen obduziert. An die genaue Anzahl kann ich mich nicht mehr erinnern.
An der Beendigung der Obduktionen habe ich nicht teilgenommen. Mir wurde der Eindruck vermittelt, dass die Beendigung der Obduktionen von einem anderen Kriminalistenteam begleitet würde.
Es darf bezweifelt werden, dass im Kontext des Staatsversagens und der Desinformation über den Ablauf der sogenannten Geiselbefreiung (”alle Geiseln sind frei!”) und der Obduktionsergebnisse (9 mm-Projektile) die Obduktionen fortgesetzt wurden, zumal die getöteten Israelis zügig nach Israel überführt wurden.
Resümee:
Über das Staatsversagen ist in den Dokumentation zum 50. Jahrestag des Massakers ausführlich berichtet worden.
Allerdings wurde unterschlagen, dass eine Lösung der Geiselnahme fern von den Olympischen Spielen im Bereich des Möglichen gelegen hätte. Damit wären die Chancen für die Rettung von Menschleben höher und die Beschädigung der Olympischen Spiele durch das Massaker in München vermieden worden. Der Einsatzbefehl an die Polizei war von Staatsraison getragen und stellte die Gefährdung von Menschenleben in den Hintergrund.
Die Fragen nach der Verantwortlichkeit für die Fehlentscheidungen und die Konsequenzen in Bezug auf die direkt verantwortlichen Polizeiführer (insbesondere der Münchener Polizeipräsident und der bayrische Innenminister) sowie der am Ort des Massakers und medienwirksam auftretenden Politiker (Innenminister Genscher und Bundeskanzler Brandt) wurden konkret nicht gestellt.
Dass die Hinterbliebenen der Opfer zum 50. Jahrestag des Anschlages erneut entschädigt wurde, ist zu begrüßen. Allerdings darf in diesem Zusammenhang die Frage gestellt werden, wer die Entschädigung zu leisten hat und ob dazu auf das hinterlassenes Vermögen der Verantwortlichen, die direkt nicht mehr zur Entschädigungsleistung herangezogen werden können, geblickt werden könnte? Zumal sich einige der Verantwortlichen sowie Familienangehörige (Familie Brandt) zum Austausch gegen die Geiseln angeboten haben sollen?
Was die Entschädigungsfrage betrifft, sind damit keine Vergleiche mit historischen Entschädigungsleistungen in anderen Sachverhalten zu ziehen!
Journalisten?
Beschämend, in Bezug auf die Aufklärung der Vorfälle um das Massaker in Fürstenfeldbruck, dürfte auch (wieder einmal?) die Rolle des Journalismus in Deutschland sein.
Journalisten, denen die Kompetenz fehlt, Fragen zur Aufklärung des Attentates (z. B. Schusswaffenerkennungsdienst) oder nach den Folgen der Fehlentscheidungen durch Polizei und Politik zu stellen, und sich mit Antworten zufrieden geben, die mehr zur Verschleierung als zur Aufklärung beitragen, dürften weit entfernt von journalistischer Sorgfalt sein und ein beunruhigendes Bild einer 4. Gewalt in einem Rechtsstaat abgeben.
Gedenken in Fußballstadien?
Und letztendlich sind die Gedenkminuten für die Opfer von Fürstenfeldbruck, wie sie in Fußballstadien im Zusammenhang mit “Rassismus und Antisemitismus” missbraucht wurden, eine peinlich und propagandistisch anmutenden Fehlentwicklung bei Sportveranstaltungen, die die wahren Hintergründe des Massakers verschweigen und die politisch Verantwortlichen für das Massaker schont bzw. mit einem unterstellten gesellschaftlichen Rassismus und Antisemitismus Propaganda im Schilde führt?
Wer schoss in Fürstenfeldbruck?
*Ossietzky, Achtzehnter Jahrgang Nr. 2 vom 17. Januar 2015
http://www.campodecriptana.de/blog/2022/09/10/2273.html
Kommentar von Campo-News — 10. September 2022 @ 09:10