Der neue Blog ist unter http://campodecriptanablog.apps-1and1.net erreichbar




27. Februar 2015

Fritz J. Raddatz

Abgelegt unter: Allgemein — Campo-News @ 08:42

Fritz J. Raddatz ist gestern durch Selbstmord aus dem Leben geschieden. Anlässlich dieses traurigen Tages ein Artikel aus meinem Magazin “Campo de Criptana”, Ausgabe Nr. 5. Ein Beitrag, den Fritz J. Raddatz mir seinerzeit zur Verfügung stellte. Am Ende stand er wohl dort, wo Tucholsky auch stand, vor einer Mauer aus Abscheu über die politisch-kulturellen Zustände der Zeit. Jener Tucholsky, um dessen Erbe er sich wie kein Zweiter als Vorsitzender (und Mitbegründer mit Tucholsky Witwe) bemühte und der ebenfalls “freiwillig” aus dem Leben schied.

Kurt Tucholsky - Ein Pseudonym

Von Prof. Fritz J. Raddatz

Tucholsky hat sich zwar für Carl von Ossietzky eingesetzt, hat für die Verleihung des Nobelpreises an ihn gekämpft; aber er hat an Einsatz und Kampf – an den Erfolg – nicht geglaubt. Nicht wegen des mangelnden Einflusses, der klapprigen Mechanismen, fehlenden Beziehungen – sondern, weil er sich innerlich von den Inhalten verabschiedet hatte, für die einst gekämpft wurde. Er misstraute dem Sieg in dieser Schlacht, weil für ihn – seit langem – der ganze Krieg verloren war. Das Hickhack um Ossietzky war ihm Symbol für einen großen Umbruch; drei Monate vor seinem Tod schreibt er an Hedwig Müller:

“Und nun will ich dir mal was sagen: Ich habe es satt. Nein, ich will es nicht mehr, nie, nie mehr wieder. Und der Zweck heiligt nicht die Mittel. Und der Zweck heiligt nicht die Mittel, das habe ich mir 20 Jahre mit angesehn, und wir haben ja gesehn, welchen Erfolg das alles gehabt hat. Ich weiß mit der letzten Faser meiner Instinkte: das ist zur Erfolgslosigkeit verdammt, und das stimmt auch – das ist nichts. Kompromisse muß jeder machen, das ist richtig. Wenn aber bereits im innersten Kern einer Sache nichts als Kompromisse stecken, dann wird sie nichts. Man wird einwenden: >Aber hier sollen ja keine Revolutionen gemacht werden, hier soll für den etwas erreicht werden, und das kann man nur, indem man die Leute nicht vor den Kopf stößt< , und ich sage dir: das ist alles Unfug. Wahrscheinlich wirst du recht behalten, und die denken gar nicht dran, ihm das zu geben. (Wofür man sie nicht schmähen darf – niemand hat Anspruch auf diese Sache). Aber wenn denen überhaupt etwas imponiert, so ist es die Kraft und Stärke, der Mut und das Draufgängertum. Erfolg hat nur der Erfolg. Wer hat sich früher um die geistigen Elaborate des Faschismus gekümmert? Das wurde ernst genommen, als Straßenschlachten geschlagen worden waren, als er eine Macht geworden war – und überall sind Tyrannen nur zur Macht gekommen durch Gewalt. (Was nicht immer Roheit sein muß, aber sein kann). Mit Kompromissen anzufangen, sich stets und immer die Melodie durch die andern vorschreiben zu lassen – ich will nie mehr etwas damit zu tun haben, und mir tut noch heute jeder Schlag leid, der damals danebengegangen ist, als ich noch schlug.“

Das wäre ein großer Aufsatz. Es ist aber ein Brief. Seine Briefe in den letzten Jahren, in denen er öffentlich schwieg, das vorletzte Aufbäumen. Die Knappen und Matadore, die er einst ausgeschickt hatte zu den Kampfspielen – der knarzige Wrobel und der giftige Tiger und der versponnene Hauser - , die hatte er nun fortgeschickt. War der eine geblieben, der Kurt Tucholsky hieß?

Die vier PS gab es nicht mehr. Das fünfte löste sich auf. Seit 1932 hat Tucholsky nichts mehr publiziert. Die Karriere des Autors hatte mit einer erfundenen kleinen Liebeserzählung begonnen; „Rheinsberg“, einem imaginierten Liebesroman, “Schloß Gripsholm“, 1931.

Und der Publizist? Sein Verstummen hat viele äußere Gründe und einen tiefen inneren Grund. Die äußeren waren: Er hatte keine Plattform mehr. Von der „Weltbühne“ hatte er sich entfernt. Ende 1931, Anfang 1932 war bereits eine Wiener Parallelausgabe „Wiener Weltbühne“ installiert worden, an deren Zustandekommen Tucholsky in Wien mit dem dortigen Redakteur Willy S. Schlamm mitgewirkt hatte; es war eine, das baldige Verbot vorausssehende, Vorsichts-maßnahme. Das Blatt erschien in einem von Edith Jacobsohn und dem Wiener Industriellen Dr. Hans Heller – zu gleichen Teilen gegründeten Verlag. Schlamm war nach dem verbot der Berliner Zeitschrift deren Chefredakteur und gab sie ab 14. April 1933 unter dem Titel „Die neue Weltbühne“ in Prag heraus, die nach weiterem Verlags– und Redaktionswechsel im August 1939 eingestellt wurde.

Mit Ausnahmen weniger Glossen und Briefratschläge nahm Tucholsky am Schicksal der Exilzeitschrift nur mehr als räsonierender Leser teil, so wie er – dessen Bücher am 10. Mai 1933 öffentlich verbrannt wurden und der am 25. August 1933 zusammen mit Lion Feuchtwanger, Hellmut von Gerlach, Alfred Kerr, Heinrich Mann, Willi Münzenberg, Ernst Toller u.v.m. ausgebürgert worden war – auch nicht an einer der diversen anderen Exilzeitschriften mitarbeitete. Auch das Interesse von Exilverlegern – wie Emil Oprecht – griff er nie auf. Ausländische Zeitungen oder Verlage standen ihm nicht zur Verfügung – Tucholsky war im nicht deutschsprachigen Ausland so gut wie unbekannt. Einige – sehr wenige – Offerten beschied er negativ. Seine Reisen in Zentren der deutschen Exilliteratur – Zürich, Tessin, Paris, La Lavandou – vermied er es geradezu peinlich, ehemaligen Kollegen zu begegnen. Was war passiert? Passiert war zuerst einmal gar nichts. Tucholsky lebte in seinem elegant möblierten Haus in Hindas im südlichen Schweden, hatte eine große Bibliothek, mehrere Zeitschriften abonniert, verlebte die Sommermonate mit Dienstmädchen an der Ostküste oder auf Reisen.

Von den drei zuletzt erscheinen Büchern „Deutschland, Deutschland über alles“ (1929), „Lerne lachen ohne zu weinen“ (1931) und „Schloß Gripsholm“ (1931) waren hohe Auflagen verkauft worden; sein Paß war noch nicht abgelaufen (im März erhielt er einen schwedischen Ausländerpaß). Im Sommer 1932 hatte er im vornehmen Tessiner Sanatorium La Barca – wo es wegen einer anderen Frauenaffäre zum Zusammenprall mit Ignazio Silone kam – die Zürcher Ärztin Hedwig Müller kennengelernt; sein letztes Publikum: Klagebank, Trösterin, Beichtvater.

Vor allem den - auszugsweise veröffentlichten – Briefen an sie und den ihr gewidmeten Tagebüchern verdanken wir Kenntnis über Tucholsky letzte Jahre, bis hin zu dem befremdlich ausgedörrten Notat: “Außerdem träume ich immerzu von meiner sel. Zweiten, was mag das bedeuten?“

Passiert war nicht viel. Geschehen war Einschneidendes. Mit derselben unerbittlichen Schärfe, mit der Tucholsky die Fehlentwicklung der Weimarer Republik gegeißelt hatte, kritisiert er nun – sich selber. Unter der Ãœberschrift “Es ist aus…“ hält er Gericht über alle Denkmodelle, Fühlweisen, Verhaltens-muster, die die Katastrophe ermöglichten.

Das Instrument war noch nicht erfunden, das sich Tucholsky da Tag für Tag selber konstruiert, um ohne jegliches erbarmen, ohne jegliche Sentimentalität, ohne jegliches (Selbst-)Mitleid zu diagnostizieren:

“Aber links ist nichts und aber nichts…“; „Man muss sich schämen, Jude zu sein“; „(…) ich für meinen Teil also lehne jeden ab, der das bejaht, der dort mitmacht, ja, schon den, der dort leben kann.“

Das sind die drei Credos, die Tucholsky in hundertfacher Variation – in den Briefen an Walter Hasenclever und einige andere – wiederholt. Im vollkommen unbarm-herzigen Feuer seiner Radikalität verbrennt er, was hinter ihm liegt. Verbrennt sich: „Die Welt, für die wir gearbeitet haben und der wir angehören, existiert nicht mehr. (…) Ich für meinen Teil habe kein Mitteilungsbedürfnis mehr; für welches Publikum! Man kann für kein Parkett schreiben, das man verachtet.“ Der hier unter der litaneienhaft wiederholten Selbstbeschwörung, er sei müde, am Ende, desinteressiert, es ginge ihn alles nichts mehr an, „- es ist ja ein bisschen kindisch, immer wieder auszudrücken, dass es einen nichts mehr angeht -„: der wächst noch einmal auf zu dem vielleicht klarsichtigsten, großartigsten politischen Publizisten seiner Zeit; ohne zu publizieren. Noch heute – gerade heute – möchte man stundenlang und seitenlang vorlesen aus diesen Prophezeiungen, Warnungen, Abrechungen. Die nahezu datenexakte Voraussage des Krieges: „Das bedeutet dann in fünf Jahren etwa irgendeinen Krieg“ – Juli 1934! „Immer stärker bis zur Gewissheit ist in mir: det sind sie! Es ist nicht wahr, dass das arme Volk unterjocht ist, dass sie es nicht gewollt haben, es ist nicht wahr“ – Juli 1934! „Rußland wird, wenn Deutschland gesiegt hat, am Rhein beginnen“ – März 1935! „Man muß von vorn anfangen – nicht auf diesen lächerlichen Stalin hören, der seine Leute verrät, so schön, wie es sonst nur der Papst vermag – nichts davon wird die Freiheit bringen. Von vorn, ganz von vorn“ – Dezember 1935! Tucholskys Feder trennt Lüge und Seelenfett und Mogelstränge und die tauben Nerven voneinander ab; und sich mitten durch.

Die Lektüre der Briefe bietet den Anblick einer Gespensterarmee: Auf Pferdeskeletten galoppieren die ermordeten Pseudonyme heran, über ihren Totenköpfen flattern zerschlissene Fahnen, auf denen die alten Symbole gelöscht sind. Noch lebt der Heerführer, dessen Litanei ein grindendes Geräusch macht: als mahle sich da einer selbst durch die Pfeffermühle, zu Staub. Hier ist das literarische Dokument für jenen Auflösungsprozeß eines Ich festgehalten – von eben diesem Ich.

In Wahrheit sind diese Briefe – ob an Nuuna, die er mochte, oder an Hasenclever, an dem er hing – keine Briefe. Es sind Notate mit einer Anrede. Der eigentliche Adressat heißt Tucholsky. Die Ruf-Monologe werden immer rasender, voller Entsetzen schreiben sie das eigene Verlöschen auf – nicht zu zählen die Sätze wie „da kommt nichts mehr“, „ein aufgehörter Dichter“, „ich kann mir nicht denken, dass es jemals nochmals fließt“. Rührend dabei die vielen kleinen Späßchen über mögliche spätere Herausgeber dieser Korrespondenz und das flehentliche Bitten zugleich, niemand dürfe das lesen, es sei nur so herausgekollert, nicht formuliert, ohne Belang; Hasenclever habe ich gefragt, „warum so einen Brief, wie ich an ihn schriebe, nicht veröffentlichte“ – winziges Hoffnungsblinzeln, ein Haschen nach Sternen, die sich im verrinnenden Wasser spiegeln; sie verzischen bei der Berührung.

Die überwältigende Würde dieser Texte wurzelt eben darin, dass Tucholsky sich ohne jeden Umstand einbezieht. Er dekretiert nicht nur, „Wer einmal marxistisch denken gelernt hat, der kann überhaupt nicht mehr denken und ist verdorben“, sondern stülpt sich auch selber um: „Hier ist die ganze Hohlheit der >Linken< , ihre Wortberauschtheit, ihre Leere und ihre elende Schwäche. Ich auch? Ich auch. Nur habe ichs nun eingesehn, und nie, nie wieder.“ Im Auflösen des überkommenen Kanons berührt Tucholsky sich überraschenderweise mit Autoren, die er nicht mochte oder die ihn nicht mochten. Wir stehen vor dem seltsamen Phänomen, dass marxistische Schriftsteller – ob Bertolt Brecht oder Johannes R. Becher oder Anna Seghers, im Exil auf je verschiedenen Kontinenten, in Kalifornien, Moskau und Mexico – stets die These vom „anderen, besseren Deutschland“ vertraten. Sie glaubten an die Massen, als die schon am roten Wedding die Hakenkreuzfahne hissten; an das Volk, als das schon die Schaftstiefel im Gleichschritt schwang; an das Proletariat, als das schon die Panzer, Stukas und U-Boote bestieg, um die Nachbarvölker zu morden. „(…) wie dieser Koloß, der sich im Osten mit Blut voll saugen wird, sich eines Tages auf die andere Seite wälzen wird, und dann wehe Frankreich!“ – nur die Reihenfolge war falsch an Tucholskys Schreckensvision. Aber es war ein Thomas Mann – von Tucholsky nie geschätzt -, der den Nationalsozialismus eine „politische Erfüllung von Ideen“ nannte, „die seit mindestens anderthalb Jahrhunderten im deutschen Volk und in der deutschen Intelligenz rumoren“; und es war ausgerechnet Joseph Roth, der nicht nur verblüfft konstatierte, „gegen den Auswurf der Hölle ist selbst mein alter Feind Tucholsky mein Waffenkamerad“, sondern der auch mit fast denselben Worten dieselbe schneidende Konsequenz zog: “Jedermann, ganz gleichgültig, was er ist, wie er früher war, der öffentlich heute in Deutschland ist, ist eine Bestie.“

Es scheint, als ob die irrten, deren Entwurf vom Menschen der des Fortschritts war, der weiter – und Höherentwicklung zur Vernunft. Und als ob diejenigen die historische Wahrheit erkannten, die das Bild vom Menschen schwärzten als eines Wesens, von dunklen Trieben gesteuert. Es war eine zerstörerische Wahrheit.

Sie formuliert zu haben, bleibt das – weithin noch nicht erkannte – Verdienst dieses Schriftstellers. Er hat die ganze verschmockte Furtwänglerei vorher-gesehen, das Weglaufen, Mitlaufen, Lavieren, das unappetitliche „Man muß doch leben“ mit dem sie Ufa-Filme drehten, und die feige Drückebergerei des „Ich habe doch nur…“ mit dem sie alle mitmachten, die Millionen Rädchen eines barbarischen Systems: die Radiosprecher der Sondermeldungen und Blockwarte, die Zeitungsredakteure und Rampenselektierer, die Hausfrauen vom Winterhilfswerk und Sportpalastjubler. Tucholsky war immer der Mann der „kleinen Stimme“ gewesen – so sah er vielleicht nicht das Massenverbrechen und den Millionenmord der Zukunft voraus. In einem Brief hat er sich selber „keinen Tiresias“ genannt: „1913 habe ich an eine >Kinomüdigkeit< des Publikums geglaubt und die Bedeutung dieser löblichen Institution nicht erkannt. 1918/1919 habe ich überhaupt nichts verstanden. (…) 1933 habe ich an die Ernsthaftigkeit der Judenverfolgung nicht geglaubt, wenigstens nicht bis zum Reichstagsbrand.Du siehst: ich halte mich für keinen Tiresias.“

Aber die hunderttausendfache Mediokrität, die klebrige Seligkeit von Schlusnus-Liedern im Reichsrundfunk als seelische Durchhalteparole und Hans Schmidt-Isserstedt mit dem Chor der Deutschen (die da schon in Trümmern lag) vor den Arbeitern einer Rüstungsfabrik: dieses ganze Kunst-Make-up über der Fratze der Verbrecher durchschaute er genauso wie die Lügen der Unternehmer, die er „Negociants de morts“ bezeichnete: „Sage dem Syndikus einer solchen Waffenfabrik, er sei schuld am nächsten Kriege, und sage: Sie sind Helfershelfer des Massenmordes! – so wird er dir antworten: >Sie haben wohl einen Vogel. Ich mache hier Bürostunden, und Sie sagen mir Helfershelfer! Was wollen Sie eigentlich?< “

Es blieb jedoch nicht bei dieser Unheilsprophetie, nicht bei der gespenstischen Vorwegbeschreibung – als habe dieser Mann die munteren Marika-Rökk-Hopsereien, Zarah Leanders Raunen und Werner Krauß´ Jud-Süß-Infamie gesehen und gehört. Vielmehr geschah etwas Radikales: Tucholsky – das Alte als Irrtum erkennend – suchte nach Neuem. Eine Idee? Ein Glaube? Ein Inhalt?

Schwer zu sagen. „Immer suchen ist nicht schön“, schreibt er einmal, „Man möchte auch mal nach Hause…“ Dieses neue Haus kann man nur mit einer positiven Kraft bauen – das ist von nun an Tucholskys ganzes Sinnen und Trachten: Man muß den Menschen positiv kommen. Dazu muß man sie – trotz allem – lieben.

Wenn auch nicht den einzelnen Kulicke, so doch die Menschheit. Ich vermags nicht. Meine Abneigung gegen die Schinder ist viel größer als meine Liebe zu den Geschundenen – hier klafft eine Lücke.“

Tucholsky, der sich mal „kein Bolschewist, aber ein Anti-Anti-Bolschewist“ genannt hat, verabschiedet das „Anti“. Das Wort von der „positiven Doktrin“, mit der man jetzt den Kampf führen müsse, fällt oft, eine eigene Kraft, die dem Gewölk aus Rassismus, Natio-nalismus und Militarismus entgegenzusetzen wäre. Solange das fehlt, weiß er, dass Hitler siegen wird. “Man siegt nicht mit negativen Ideen.“

Der Mann mit den reizbaren Nerven und dem untrüglichen Wahrnehmungs-system war – wieder einmal, das letzte Mal – der erste: am Schluß. Was er hier vordefinierte fand und in quälenden Variationen weiterdachte – das war das Ende: „Die freiheitlichen Ideen des Bürgertums aber sind tot, niemand lässt sich dafür ohrfeigen. Hier ist etwas zu Ende gegangen. Daß auf dem Champs Elysées antisemitische Blätter verkauft werden, zeigt, dass niemand das als schändlich empfindet – achselzuckend, murrend und gleichgültig gehen die Leute daran vorbei, und die Juden sind ja auf Meilen nicht zu sehn. Nun, was sich nicht aggressiv verteidigt, das geht unter, und man soll es noch stoßen, denn es ist nicht mehr lebensfähig. Es ist für uns andere, die wir weder Faschisten noch Kommunisten sind, keinerlei Idee da, für die wir ein Opfer bringen könnten, keine, die uns befeuert, wir wissen nur, was wir nicht wollen. Und der, der etwas nicht will, ist immer schwächer als der, der etwas will.“

Keinerlei Idee. Das ist es, was Tucholsky in den letzten Jahren seines Lebens umtreibt….(Er) diagnostiziert mit geradezu klinischer Kühle, warum an „morgen arbeiten“ nicht zu denken ist: “Daß übrigens mit guten Vorsätzen in diesem Zustande nichts zu machen ist, steht auch bei Schopenhauer – er beschreibt den Moment jeder Inspiration großartig, sagt wie stark das vom Physischen abhänge und bemerkt: >Der Wille vermag dazu nichts< , nämlich dazu, dass die Gegenstände zu sprechen anfangen. Für mich sind sie tot, ich aber auch.“

Mit derselben akribischen Ironie, mit der Tucholsky das Gemauschel derKauflaute und das Geplapper der Huren, den Klatsch der TennisBeaus, das Genäsel der Herren Offiziere und die Schnoddrigkeiten der kessen kleinen Berlinerinnen, alle Noten des ganzen Foxtrotts zum Abgrund hin notierte, schraffierte er das Bild seiner Auflösung; er weiß, „Ich sage zu allem nur Nein, weil ich krank bin“ – „Alles, was ich hier schreibe, muß man mit dem Müdigkeits und Krankheits- Koeffizienten multiplizieren“, und er raucht sich lauter kleine Rettungsringe in die Luft, von denen er genauso weiß, sie sind blauer Dunst.

Geradezu rührend diese Schräglichter in die Schwärze – mal hier der Gedanke zu einem Lied, mal dort die Erwägung, einen französischen Artikel zu schreiben. Aber über allem die Gewissheit, „ich werde nie mehr, wie ich gewesen bin“ – „Daß ich mein Leben zerhauen habe, weiß ich.“

Zerhauen. Ein großer Wurf – und viele kleine Stücke. Er hat Wahrheiten gesagt – und viele kleine Lügen gelebt; nicht einmal dem selbstformulierten Bann ist er gefolgt: Niemanden mochte er akzeptieren, der „dort“ überhaupt leben, es aushalten konnte in Nazideutschland. Ob Walter Hasenclevers Schwester – „…ich hatte immer so ein Gefühl…:>Sie kann es also aushalten –hm -< “ – bis zu Freund Karlchen – “Kallchen schreibt nicht mehr.

Ist auch er hinüber?“ werden alle misstrauisch beargwöhnt nach dem selbst auferlegten Gesetz: „(…) ich für meinen Teil also lehne jeden, aber auch jeden radikal ab, der das bejaht, der dort mitmacht, ja, schon den, der dort leben kann.“ Aber sein Werk – war es das Kind, das er mit ihr erdichtet, nicht erzeugt hatte? – vermachte er testamentarisch der Frau, die Deutsch-land nie verließ und von der er sich 1933 hatte scheiden lassen, damit sie ungefähr-det „dort“ lebe. Auch das noch ein Akt des unauflösbaren Widerspruchs: mit ihm wollte er sein Lebenswerk erhalten – doch er wusste, dass es genau durch diese Bestimmung bis zum Ende der Hitlerzeit (das 1935 nicht absehbar war) nicht vorhanden sein könnte; kein Wort, keine Silbe, keine Zeile. Den Gedanken, es einer der beiden Vertrauten seiner letzten Jahre – der Schweizerin Hedwig Müller, der Schwedin Gertrude Meyer – zu übertragen, hat er nie erwogen. Es gehörte zu einem imaginären Deutschland. Dessen Teil er war: der dicke kleine Jude aus Berlin – das er haßte und liebevoll beschrieb wie kein anderer; der Rotsporn bechernde Kasinokommissar – dessen pazifistische Gedichte hell durch die Zeiten leuchten; der elegante Bonvivant – mit dem Herz für die Unterdrückten; der „externe“ Dr. jur. – vor dem die Weimarer Justitia zitterte; der frivol seine vielen Liebschaften zu klingender Chansonmünze Schlagende – dessen Lebensgesetz wir in jener nistenden Melancholie zu erkennen haben, die den Brief an seine Frau Mary diktierte, den Tag, an dem er das Gift nahm: „(…) der wie ewig gejagt war, der immerzu Furcht, nein, Angst gehabt hat, jene Angst, die keinen Grund hat, keinen anzugeben weiß (…) >O-Angst<…nicht vor dem Ende. Das ist mir gleichgültig, wie alles, was um mich noch vorgeht, und zu dem ich keine Beziehung mehr habe. Der Grund zu kämpfen, die Brücke, das innere Glied, die raison d´êntre fehlt. Hat nicht verstanden.“

Er hatte sich viele Namen gegeben, mit denen er die Welt bannen wollte. Er hatte sich in ihren Schatten verlaufen. Er hatte gläserne Wände zwischen sich und die Menschen gebaut, Pseudonyme. Er war in das Glas hineingeschmolzen, ein sterbender Falter. Das Glas war zersprungen.

Fritz J. Raddatz, geboren 1931 in Berlin, ist freier Autor, Essayist und Publizist. 1960-69 war er Cheflektor im Rowohlt Verlag, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Hannover, 1977-85 Feuilletonchef der ZEIT. Herausgeber von Tucholskys Gesammelten Werken, Gemeinsam mit Tucholskys Witwe Mary Mitbegründer der Kurt-Tucholsky-Stiftung – und bis heute ihr Vorsitzender.

1 Kommentar »

  1. Märchen

    Es war einmal eine Kanzlerin, die über ein unermeßlich großes, reiches und schönes Land herrschte. Und sie besaß wie jede andere Herrscherin auch eine Schatzkammer, in der inmitten all der glänzenden und glitzernden Juwelen auch eine Flöte lag. Das war aber ein ganz merkwürdiges Instrument. Wenn man nämlich durch eins der vier Löcher in die Flöte hinein sah – o! was gab es da alles zu sehen! Da war eine Landschaft darin, klein, aber voll Leben: Eine herrliche Landschaft mit Wolken und Seen. Feine Damen renkten die Hälse ins Schaufenster und eine Bäuerin trug einen Armvoll Blumen. Auch geschäftige Händler und gute Arbeiter waren darin zu sehen – kurz, die ganze moderne Richtung war in der Flöte. Und was machte die Kanzlerin damit? Sie pfiff drauf.

    Tucholskys “Märchen” aus dem Jahre 1907, nur leicht abgewandelt

    http://www.montraykreyol.org/article/warum-sind-intelligente-menschen-haufig-sozial-isoliert

    Prima - http://www.zeit.de/2017/53/einsamkeit-freundschaft-leben-romantisierung

    http://www.mumag.de/gedichte/tuc_k02.html

    Johannes R. Becher, keineswegs in einer ungeheizten Zweizimmerwohnung hausend, sondern in einer schwer bewachten Villa, Multifunktionär mit Chauffeur, Sekretären, Ostseedatscha und Westberliner Zweitwagen, mit dem er sich Morphium und Strichjungs aus der Frontstadt besorgt. https://www.zeit.de/1999/43/199943.brd_ddr-2_.xml Hanns Eislers Lebenskraft war nach diesem Tribunal gebrochen, sein sprichwörtlicher élan vital aufs tiefste erschüttert. Der 47-jährige Meisterschüler Arnold Schönbergs, Kommunist mit österreichischer Staatsangehörigkeit, zog sich nach Wien zurück, wo seine Mutlosigkeit ihn daran hinderte, die Oper zu komponieren. Verzweiflungsvoll vertraute er seinem Tagebuch an: “Erlöschende Kraft. Die Gräue des Alters. Freudlosigkeit an der Arbeit. Keine Perspektive. Erschlaffung aller Fähigkeiten. Gleichgültigkeit.” Doch der geniale Künstler konnte sich sein Leben und sein Werk nicht ohne die Bindung an den Sozialismus vorstellen. Zehn Jahre später, 1963, sollte er zu Heiner Müller, der sich wegen der künstlerischen Häresie seines Stückes Die Umsiedlerin einem ähnlichen Prozess ausgesetzt sah, den Satz sagen: “Sei froh, in einem Staat zu leben, in dem man die Literatur so ernst nimmt.” Jetzt, 1953, telegrafierte er, wenige Monate nach dem Tribunal, von Wien nach Berlin: “Wien, am 30. Oktober 1953. (…) Ich kann mir meinen Platz als Künstler nur in dem Teil Deutschlands vorstellen, wo die Grundlagen für den Sozialismus aufgebaut werden.” Im Februar 1954 kehrte Hanns Eisler nach Ostberlin zurück, wo er bis zu seinem Tode am 6. September 1962 lebte und arbeitete.

    https://www.n-tv.de/leben/Liebe_und_Familie/Mit-etwas-Glueck-bin-ich-bald-tot–article20947199.html?fbclid=IwAR3m3lDA7tzc5_r29RKVqLpMAackFlLcDozm5utpO6g248zr6hhGGmoPIPA

    Extremer Hedonismus bringt weder Glückseligkeit noch Leidensfreiheit und die extreme Askese noch viel weniger. Und so begründete er den «mittleren Weg», der auf «den vier edlen Wahrheiten» basiert:

    Alles Leben ist leidvoll. Oder umgangssprachlich gesagt: Der Mensch ist von Natur aus am Arsch. Es gibt keine Lösung. https://www.albertojosevarela.com/de/kann-man-gluecklich-sein-auch-wenn-das-leben-keinen-sinn-hat/

    https://www.zeit.de/1991/45/die-selbstverstuemmelung-des-johannes-r-becher/komplettansicht

    Augen in der Großstadt
    Wenn du zur Arbeit gehst
    am frühen Morgen,
    wenn du am Bahnhof stehst
    mit deinen Sorgen:
    dann zeigt die Stadt
    dir asphaltglatt
    im Menschentrichter
    Millionen Gesichter:
    Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
    die Braue, Pupillen, die Lider -
    Was war das? Vielleicht dein Lebensglück…
    vorbei, verweht, nie wieder.
    Du gehst dein Leben lang
    auf tausend Straßen;
    du siehst auf deinem Gang,
    die dich vergaßen.
    Ein Auge winkt,
    die Seele klingt;
    du hast’s gefunden,
    nur für Sekunden…
    Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
    die Braue, Pupillen, die Lider -
    Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück…
    vorbei, verweht, nie wieder.
    Du mußt auf deinem Gang
    durch Städte wandern;
    siehst einen Pulsschlag lang
    den fremden Andern.
    Es kann ein Feind sein,
    es kann ein Freund sein,
    es kann im Kampfe dein
    Genosse sein.
    Es sieht hinüber
    und zieht vorüber…
    Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
    die Braue, Pupillen, die Lider -
    Was war das? Von der großen Menschheit ein Stück!
    Vorbei, verweht, nie wieder.

    Masken in der Großstadt

    Wenn du zur Arbeit gehst
    am frühen Morgen,
    wenn du am Bahnhof stehst
    mit deinen Sorgen:
    dann zeigt die Stadt
    dir asphaltglatt
    die verhassten
    Gesichtsmasken
    Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
    die Braue, Pupillen, die Lider - mehr nicht!
    Was war das? Vielleicht dein Lebensglück…
    vorbei, verweht, nie wieder.

    Du gehst dein Leben lang
    auf tausend Straßen;
    du siehst auf deinem Gang,
    die dich vergaßen.
    Ein Auge winkt,
    die Seele klingt;
    du hast’s gefunden,
    nur für Sekunden…
    Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
    die Braue, Pupillen, die Lider - mehr nicht!
    Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück…
    vorbei, verweht, nie wieder.

    Du mußt auf deinem Gang
    durch Städte wandern;
    siehst einen Pulsschlag lang
    den fremden Andern.
    Es kann ein Feind sein,
    es kann ein Freund sein,
    es kann im Kampfe dein
    Genosse sein.
    Es sieht hinüber
    und zieht vorüber…
    Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
    die Braue, Pupillen, die Lider - mehr nicht!
    Was war das? Von der großen Menschheit ein Stück!
    Vorbei, verweht, nie wieder.

    Der schwule Feuilletonist und Dandy Fritz J. Raddatz, was verdanken wir seiner köstlichen, stets schwerst verklatschten Schreibe! Über eine Begegnung mit dem Stern-Gründer Henri Nannen in dessen (von Raddatz gering geschätzten) Kunstmuseum in Emden: „Der alternde Elefant mit Hörrohr und nassgekämmtem Weisshaar … vor lauter schwitzender Selbstgefälligkeit und Sich-in-Szene-setzen kam er natürlich nicht dazu, auch nur das eine Wort ‚danke‘ zu sagen … Kleinbürger mit großem Portemonnaie …“
    Raddatz über Grass und dessen Israel-Agitpropgedicht „Was gesagt werden muss“: „Er kommt mir vor wie die alternden Schwulen in den Parks, die an sich herumfummeln, ihn kaum oder nicht oder knapp hochkriegen – und dann kommt ein widerliches Tröpf’chen.“
    Der ewige Spötter „Effjott“ war es auch, der in seiner 1975 erschienenen Karl Marx-Biografie genüsslich ausbreitete, wie die Herren Marx und Engels über politische Konkurrenten herzogen. Marx: „Der jüdische Nigger Lasalle … dabei das wüste Fressen und die geile Brunst dieses Idealisten… es ist mir jetzt völlig klar, dass er, wie auch seine Kopfbildung und sein Haarwuchs beweist, von den Negern abstammt…“
    Engels über Forderungen, das Homosexualitätsverbot zu liberalisieren: „Es ist nur ein Glück, dass wir persönlich zu alt sind, um noch beim Sieg dieser Partei fürchten müssten, den Siegern körperlich Tribut zahlen zu müssen.“ https://www.achgut.com/artikel/rettet_den_hass

    https://www.textlog.de/tucholsky-wir-negativen.html#:~:text=Wir%20wollen%20k%C3%A4mpfen%20mit%20Ha%C3%9F%20aus%20Liebe.&text=Wir%20k%C3%A4mpfen%20allerdings%20mit%20Ha%C3%9F,Negativ%3F

    Kommentar von Campo-News — 18. August 2015 @ 12:38

RSS-Feed für Kommentare zu diesem Beitrag. TrackBack-URL

Einen Kommentar hinterlassen

You must be logged in to post a comment.

kostenloser Counter

Weblog counter