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4. Februar 2008

Kreislauf oder Spirale?

Abgelegt unter: Allgemein — Campo-News @ 18:47

Die Leute blicken immer so verächtlich auf vergangene Zeiten, weil sie dies und jenes „noch“ nicht besaßen, was wir heute besitzen. Aber dabei setzen sie voraus, dass die neuere Epoche alles das habe, was man früher gehabt hat, plus des Neuen. Das ist ein Denkfehler. Es ist nicht nur vieles hinzugekommen. Es ist auch vieles verloren gegangen, im Guten wie im Bösen. Die von damals hatten vieles noch nicht. Aber wir haben vieles nicht mehr.

Kurt Tucholsky (1890-1935)

Kreislauf oder Spirale?

Ketzerisch könnte die Titel-Frage auch lauten: Ist der gesellschaftliche Fortschritt nichts als das Produkt verbesserter Technik? Augenscheinlich kann man zu keinem anderen Ergebnis kommen. Wobei auch die Begriffe „Fortschritt“ und „verbessert“ auch nicht ohne Antithese übernommen werden können. Doch der Reihe nach.

„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ lautete der Ruf der französischen Revolution, die schon in der Stunde ihres ersten Triumphes gleichzeitig ihr ambivalentes, ihr zweites, gewalttätiges Gesicht, offenbarte. Doch sind wir nicht zu vornehm: Revolutionen waren selten ein Sonntagnachmittagsvergnügen. Sie besaßen zudem solange eine Berechtigung, bis des „Volkeswille“ durch die Einrichtung der parlamentarischen Demokratien eine entsprechende Umsetzung fand.

Unten = gut, oben = böse

Dass der Mehrheitswille oftmals zu einer ebensolchen brutalen Unterdrückung der Minderheit führte, entsprach selbstverständlich nicht den postulierten, freiheitlichen Vorstellungen, war schon gar nicht brüderlich, aber u.a. Ausdruck einer egalitären Auffassung von „die da oben“ und „wir da unten“. Wie schnell sich aber der Charakter einer derartigen Bewegung ändern konnte, erlebte nicht nur das Napoleonische Frankreich, sondern auch andere „Bewegungen von unten“, wie das „3. Reich“ (welches sich ja sogar durch Wahlen und legale Koalitionen durchsetzte) oder zuletzt das Sowjetimperium.

Dass etwas, das „von unten“ kommt, „gut“ ist, wurde beinahe zum unumstößlichen, zum nicht anzuzweifelnden Grundsatz. Mögen die Auffassungen auch noch so irrational sein oder einer Moral entsprechen, die in Sklavenhalter oder Feudalordnungen oder gar aus selbst verschuldeten Zuständen entstand – wer Armen widerspricht oder wer ihre Beschreibungen der Gründe und scheinbaren Ursachen hinterfragt, gilt als „böse“, „neoliberal“ oder „reaktionär“. Der Arme ist stets das Opfer der Reichen und „der Verhältnisse“, die Reichen sind skrupellos, gierig und antisozial.

Zwar gerät dieses Bild schon bei dem Versuch ins Wanken, die stets einforderte Solidarität des Armen an eigenen Handlungen – vor allem untereinander - zu überprüfen, denn selbst als Täter wird sich der aggressive Teil damit hinausreden, der andere habe „mehr als ich“ besessen und es sei doch unter diesen Umständen entschuldbar, dass er sich zu Übergriffen hinreißen ließe. Anderseits waren die Reichen im Mittelalter und der beginnenden „Neuzeit“ (Renaissance) durch den christlichen Glauben zur Barmherzigkeit und zur Almosen-Verteilung verpflichtet. In den reicher werdenden Städten begrenzten Bettelordnungen und Lizenzen die zunehmende Masse der Vagabunden, zumal sich zu Ihnen auch die Arbeitsscheuen gesellten, die, sofern man sie erkannte, keine Bettelerlaubnis erhielten („Es gibt Bettler, wenn die in eine Stadt kommen, so lassen sie die Kleider in der Herberge und sitzen fast nackend vor den Kirchen, dass man denken soll, sie leiden großen Frost. Etliche sagen, sie seien beraubt worden, etliche sagen, sie seien siech gelegen und haben ihre Kleider verzehrt, etliche sagen, sie seien ihnen gestohlen worden und tun das drum, dass ihnen die Leute Kleider geben sollen.“ , 15. Jahrhundert)

Das Bürgerrecht

Das Periodikum „Geschichte“ nennt in seiner aktuellen Ausgabe die herrschenden Standards, um in den Besitz der Bürgerrechte zu gelangen. Wer ein „Freier“ sein wollte, musste ein Jahr lang unbehelligt in der Stadt leben, ein Eintrittsgeld errichten und den Bürgereid leisten. Das volle Bürgerrecht erhielt nur der ehelich geborene, nicht zu den „unehrlichen“ Berufsständen (Scharfrichter, Spielleute, Gaukler, Abortreiniger, Totengräber) gehörende, ein Grundstück oder Haus besitzende. Armen, Mietern oder Berufsbettlern blieb der Stand des Bürgers verwehrt und mit ihm die politischen Rechte, aber auch seine Pflichten (z.B. der Schutz der Stadt).

Die mittelalterliche Gesellschaft definierte Armut nicht per neuzeitliches Sozial-Axiom als „nur die Hälfte des Durchschnitts besitzend“, sondern verband damit eine menschliche Existenz am Rand des Minimums. Haben sich also willkürlich erscheinend Kategorien verschoben, darf man die Aufteilung der Gesellschaft tendenziell als Konstante bewerten. Schon damals bestand die Schicht der Armen aus rund 10% Arbeitslosen, Berufsbettlern, Kranke, mittelose Alte und Irren. Wenig höher auf der Sozialleiter standen die schon erwähnten „unehrlichen“ Berufsstände. Hervorzuheben ist vielleicht noch an diesem Fakt, dass das „unterhaltende Gewerbe“, also die Spielleute und Gaukler, die heute zu den medial dominierenden Personengruppen gehören, im Wortsinn vogelfrei waren. So hieß es damals in manchem Stadtrecht: „Wenn jemand einen Spielmann schlägt, so soll er dem Richter nichts dafür zu geben schuldig sein und auch dem Geschlagenen nichts, außer drei Schlägen, die mag er ihm noch fröhlich dazugeben.“

Knapp 30% der städtischen Bevölkerung bildete die Unterschicht mit Aufstiegschancen, also die untere Mittelschicht. Sie bestand aus Tagelöhnern, Dienstboten, Kaufmannsgehilfen etc.. Zur 50% der Menschen umfassenden Mittelschicht zählten die Schreiber, Kaufleute, Geistliche, Handwerker und Ärzte. Etwa 10% bildeten die Oberschicht, bestehend aus Großkaufleuten und Patriziern. Die ab etwa 1200 überall entstandenen Stadträte rekrutierten ihre Mitglieder allein aus den beiden wohlhabenden Schichten. Nur wer etwas besaß, sollte über den Besitz aller (mit)bestimmen dürfen.

Aufklärung und Romantik

Mit den geistigen und militärischen (!) Siegen der Aufklärung wuchsen die individuellen Rechte und die so genannten „Demokratischen Errungenschaften“. In Teilbereichen entstand frühzeitig eine Gegenbewegung, z.B. die Romantik. Schnell wurde deutlich, dass die allzu vernünftig agierenden, kalt wirkenden, versimpelt „wissenschaftlich“ handelnden Kräfte, neben mancherlei Gewinn, auch Verluste einfuhren. Was für die Humanisten das „finstere Mittelalter“ war, verklärten die Romantiker als Idealzeit. Wieviel Sozialromantik in den Wertungen der Aufklärer und wieviel Realitätssinn in den Schwärmereien der Romantiker liegen, böte Stoff für mehrere Essays.

Wenn sich also durch die Jahrhunderte die Gruppe der Alimentierten weder in der Größe, noch in der Funktion maßgeblich veränderten, bleibt die Frage, ob sich daran prinzipiell je etwas ändern wird oder ob der „Fortschritt“ – der es auch bezüglich der Lebensqualität nicht immer ist – nicht allein durch technische Optimierungen zustande kam?! Institutionalisierte Hilfe bleibt sicher von Nöten. Wo aber ihr Charakter Dekadenz entstehen lässt, ist ihre Hinterfragung – im Einzelfall sogar ihre Beseitigung – zwingend erforderlich. Es ist bekannt, dass konservative Menschen eher privat spenden als „progressive“, vielleicht, weil sie wissen, dass das Gesamtvolumen der Bedürftigen sich nicht ändert, sondern sich immer wieder nach den Möglichkeiten der Gesellschaft reproduziert, aber sie dies individuell durch Geld (und Leistung) unterstützen wollen, anstatt anonym zu zahlen (wozu man sie staatlicherseits zwingt). Der „Progressive“ fühlt sich auf Grund seines ideologischen Bildes nicht verantwortlich, negiert Sentiments und delegiert mit Vorliebe die Zuständigkeit auf den Staat, den er vertraulich „Vater“ nennt. Gibt es eine Partei, von der man annehmen darf, dass sie diese Gesamtgemengelage noch berücksichtigt, anspricht, resp. problemlösend handelt?

Konstatieren wir dennoch Nietzsches Imagination, nach der die Welt ein ewiger Kreislauf sein soll. Mag sein, das Weltgeschehen stellt sich in Form einer Spirale dar: Einer sehr langsam und äußerst flach ansteigenden zwar, aber eben doch – einer Spirale!

Lesetipps: „Geschichte“, Sailer-Verlag

Rüdiger Safranski: Romantik – eine deutsche Affäre, Hanser

6 Kommentare »

  1. Steuern im Mittelalter – Soeben las ich das Letztlingswerk von Robert Fossier (1927-2012) „Das Leben im Mittelalter“ (Piper Verlag, München 2008, ISBN 3492050921, 496 Seiten) zu Ende. Interessant sind u.a. seine Ausführungen zu den mittelalterlichen Abgaben:
    Es wäre wohl an der Zeit, daran zu erinnern, dass die Untertanen dem Verwalter ihres Grundherrn proportional weniger Steuern zu zahlen hatten als wir unserem Finanzamt, dass die Gerichtsverhandlungen am Fuße der Burg schneller abliefen und zu milderen Urteilen kamen als unsere unendlichen und oft recht zweifelhaften “Rechtswege”, dass die bewaffneten “Büttel” und die in der Burg stationierten Berufssoldaten nicht weniger effektiv die allgemeine Sicherheit gewährleisteten als unsere zahlreichen und dabei doch oft so überforderten Polizeikräfte und dass die angebliche “feudale Anarchie” ein Mythos ist, da der Mensch vielleicht zu keiner anderen Zeit so an die Hand genommen wurde wie damals….Die Gebühren, die man dem Grundherrn im Rahmen seiner Bannrechte für die Nutzung der Mühle oder seiner Weinpressen und für ähnliche Leistungen zahlen musste, waren immer noch geringer als unsere heutigen kommunalen Abgaben. Dasselbe leiße sich auch für die Waren – und Verkaufssteuern, Mautgebühren und selbst die Beschränkung der Persönlichkeitsrechte behaupten.

    https://www.achgut.com/artikel/die_nachhaltigkeit_des_mittelalters
    https://www.abendzeitung-muenchen.de/muenchen/karl-der-grosse-hat-nie-gelebt-art-321784#:~:text=In%20Kurzform%3A%20Die%20Jahre%20614,wir%20erst%20im%20Jahr%201717.

    Kommentar von Campo-News — 23. Mai 2014 @ 09:41

  2. http://www.spiegel.de/spiegelgeschichte/mittelalter-keine-epoche-ist-so-unter-vorurteilen-verschuettet-a-1015336.html

    Kommentar von Campo-News — 29. Januar 2015 @ 09:44

  3. Es zu bunt treiben - eine Definition (aus “Schwein gehabt”, Autor Gerhard Wagner):

    “Buntes war ursprünglich nur schwarz-weiß im Gegensatz zu einfarbig…Man sagte “kunterbunt” wenn man mehrere Farben gleichzeitig meinte und erst im 14. Jahrhundert änderte sich die Bedeutung von “bunt” zu “vielfarbig”….Wenn man es also ZU BUNT TRIEB, VERHIELT MAN SICH NICHT STANDESGEMÄß, UNGEBÃœHRLICH.

    Kommentar von Campo-News — 2. Juli 2015 @ 14:38

  4. Ein Spießbürger sein - eine Definition (aus “Schwein gehabt”, Autor Gerhard Wagner):

    Der Begriff “Bürger” leitet sich von dem althochdeutschen Wort “burga - Schutz” ab und meint Bewohner einer burgartig befestigten Stadt. Im Mittelalter hatten die Bürger die Pflicht, im Angriffsfalle ihre Stadt mit der Waffe zu verteidigen. Diese Waffe war in erster Linie ein Spieß, der relativ günstig herzustellen war, aber erfolgreich gegen die Ritterheere des Hoch - und Spätmittelalters eingesetzt werden konnte. Ein Spießbürger war also etwas Positives, nämlich ein Stadtbewohner, der das Recht hatte, eine Waffe zu benutzen und sich wehren konnte.

    Kommentar von Campo-News — 3. Juli 2015 @ 11:42

  5. Die Katholische Kirche war gegen die Hexenverfolgung – im Gegensatz zu Luther und Calvin. Martin Luther war ein Verfechter der Hexenverfolgung, denn er war überzeugt von der Möglichkeit des Teufelspaktes und des Schadenszaubers. In einer Predigt vom 6. Mai 1526 sagte er über Hexen und Zauberer: „Sie schaden mannigfaltig. Also sollen sie getötet werden, nicht allein weil sie schaden, sondern auch, weil sie Umgang mit dem Satan haben.“ – Fairerweise muss man aber sagen, dass sowohl katholische wie auch protestantische Theologen gegen den Hexenwahn angekämpft haben. https://thecathwalk.net/2016/06/26/mythos-hexenverbrennungen-fuenf-irrtuemer-die-sie-beachten-sollten/

    Kommentar von Campo-News — 27. Juni 2016 @ 14:26

  6. http://www.achgut.com/artikel/hieronymus_bosch_visions_alive

    Kommentar von Campo-News — 29. Dezember 2016 @ 16:16

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