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27. Februar 2007

Lutz Görner: “Der Satz `Das Sein, bestimmt das Bewusstsein` gilt weiter”

Abgelegt unter: Allgemein — Campo-News @ 20:22

Ein Interview mit Tanja Krienen

Zwischen den Dreharbeiten zu seiner neuen Lyrik-Reihe für 3sat, fand der in Weimar wohnende Lutz Görner Muße für ein Gespräch

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TK: “Lyrik für alle” heißt Ihre bekannte Sendung, die wöchentlich auf 3sat zu sehen ist. Ist es wirklich möglich “Lyrik für alle” anzubieten?

LG: Tja, wenn ich genau darüber nachdenke: wahrscheinlich nicht wirklich zu 100%. Aber es besteht mit dieser Sendung eine gute Chance, eine Menge der vorhandenen Lyrik aufzuarbeiten und möglichst viele Leute zu erreichen.

TK: Aber die Parole ist richtig?

LG: Ja, sie geht auf die Losung von Hilmar Hoffmann “Kultur für alle” zurück.

TK: In Ihrer Sendung interpretieren, bzw. rezitieren Sie aktuell Gedichte von Friedrich Hebbel und Conrad Ferdinand Meyer. Ihr Repertoire allerdings reicht von Johann Wolfgang von Goethe über Novalis und Heine bis hin zu Tucholsky oder Baudelaire. Befürchten Sie nicht manchmal, dies könne Ihnen als Beliebigkeit ausgelegt werden?

LG: Die Sendung soll ja eine Geschichte der Lyrik vom Barock bis zur heutigen Zeit dokumentieren. Es beginnt mit dem 16. Jahrhundert und endet mit aktuellen Lyrikern. Sie beschränkt sich auch nicht auf deutsche Dichter, sondern umfasst den ganzen abendländischen Kulturkreis. Herausgelassen haben wir die asiatische und afrikanische Lyrik, nicht zuletzt, weil den Zuhörern dabei zu viel erklärt werden müsste. Es wird ja viel auf die Amerikaner geschimpft, weil da einige Hitler für den König von Deutschland halten, aber was wissen die Menschen hierzulande von Afrika?

TK: Gibt es für Sie “unzitierbare” Lyriker oder verzichtbare Richtungen der Poesie?

LG: Es gibt Texte, die zu verrätselt sind.

TK: Zum Beispiel Dada?

LG: Dadas Witz ist erkennbar, und das ist wichtig: die Texte müssen unmittelbar verständlich sein. Ich dachte mehr an T.S. Eliot z.B.. Aber ich lese sogar Lyrik, die zur Nazizeit entstand.

TK: Da denke ich an Benn, obwohl…

LG: Benn war lediglich elitär, er hat sich schnell wieder von den Nazis abgewandt, als er merkte, wofür er vereinnahmt wurde.

TK: Sie haben einmal Heinrich Heine mit den Worten zitiert: “Für die Völker ist nichts wichtiger, als sich zu kennen. Irrtümer können hier die blutigsten Folgen haben”. Wie interpretieren Sie diesen Satz? Billigen Sie der Lyrik eine völkerverständigende Kraft zu?

LG: Das Kennenlernen der Lyrik anderer Völker halte ich schon für wichtig. Dann weiß man auch, wo man selber steht. Die Deutschen waren nur wirklich Avantgarde zur Zeit der Romantik, die Franzosen aber haben später durch die Erfindung des Symbolismus für neue und entscheidende Impulse gesorgt. Die eigene Leistung relativiert sich also, wenn wir uns mit der Kultur anderer Völker beschäftigen.

TK: Nimmt der Staat seine Aufgaben zum Erhalt des “Kulturgutes Sprache” richtig wahr und welche Rolle spielen dabei die Medien?

LG: In Deutschland haben wir es schon ganz gut. Es gibt eine Reihe Programme, in denen die Kultur eine große Rolle spielt. Prinzipiell funktionieren die Medien. So eine Sendung wie ich sie mache, gibt es sonst nirgendwo auf der Welt. Und es ist doch ein Erfolg, wenn die Leute am Sonntag um 9. 05 UHR einschalten, um sich eine Lyriksendung anzusehen. Und dabei haben sich die Zuschauerzahlen verachtfacht – wir liegen derzeit bei 260 000 Zuschauern pro Sendung, ganz erstaunlich, wenn man sich die sonstigen Quoten von 3sat ansieht.

TK: Gut, aber was wir sonst alles sehen müssen…

LG: Ach ja, schon Goethe hat sich über die Konsumenten von Dreigroschenheften aufgeregt. Es gab immer Leute, die hatten ausschließlich starke Arme, und solche, die mehr den Geist benutzen.

TK: Begonnen haben Sie einst mit Heinrich Heine - und Kurt Tucholsky - Rezitationen. Heute überwiegen – so hat an den Eindruck - eher die klassischen Stoffe. Ist das dem “Nachholbedarf” geschuldet oder kann man auch von einer Verschiebung des politischen Koordinatenkreuzes des Lutz Görner sprechen?

LG: Nee, das kann man so nicht sagen. Ich bin nur älter geworden, vielleicht nicht mehr so eckig und kantig – manches schleift sich ab. Auch bin ich skeptischer gegenüber den Ideologien geworden und habe viel dazu lernen müssen. Der Satz `Das Sein, bestimmt das Bewusstsein` gilt weiter, aber umgekehrt funktioniert das nicht. Der “neue Mensch” ist noch nicht - und niemandem - gelungen.

TK: Bleiben wir noch kurz bei Heine und blicken in das kultur-politische Rheinland. Da sollte ja unlängst Peter Handke den Düsseldorfer Heine-Preis erhalten. Dagegen gab es Proteste, Handke lehnte den Düsseldorfer Preis ab, bevor der ihm vom Stadtrat wieder aberkannt werden konnte. Nun wurde ein alternativer “Berliner Heine-Preis” ausgerufen, den Handke jetzt annahm, um das Preisgeld von mehr als 50.000 Euro demnächst an Kriegsopfer im Kosovo weiter zu geben. Können Sie die Vorgänge nachvollziehen?

LG: Wenn man ihm den Preis zuerkannt hat, dann hat man ihn zuerkannt. So. Die dann folgende Aberkennung kann ich nicht nachvollziehen. Aber was mir ein serbischer Musiker-Kollege über den Konflikt in Jugoslawien erzählte konnte ich dagegen gut nachvollziehen: das war glaubhaft. Die Frage ist, ob der Handke die Düsseldorfer überhaupt nötig hat…

TK: Kommen wir zum Schluss und somit zu Ihrem neuen Programm, mit dem Sie vom 1. März an fast täglich in Köln auf der Bühne stehen werden. Es ist ein Programm mit Robert Gernhardt – Texten. Warum Gernhardt und warum jetzt?

LG: Ich habe den Gernhardt vor 16 Jahren zum ersten Male getroffen und schon damals ein Programm gemacht. Leider wurde davon wenig Notiz genommen, weil Robert Gernhardt halt als “irgendein Satiriker” galt, der dazu noch Gags für Otto Waalkes lieferte. Doch als Gernhardt jetzt starb, habe ich mir gedacht, dieses Programm sollte – modifiziert – unbedingt wieder gespielt werden. Gernhardt gibt dem Vortragenden Gelegenheit in verschiedene Rollen zu schl üpfen. Es macht einfach Spaß ihn zu spielen.

TK: Ich bedanke mich sehr für das Interview und wünsche weiterhin viel Erfolg!

Auftrittstermine von Lutz Görner mit seinem neuen Robert-Gernhardt-Programm

Köln: Brunosaal, Klettenberggürtel 65 - täglich vom 1. 3. bis 27. März, 20.00 Uhr (außer 7., 8., 14., 17. und 21. März)

3 Kommentare »

  1. Ja, ja,

    der Benn war ja nur elitär.

    Was ja wohl der Urgrund war, dass er sich dem Hitler an den Hals geschmissen hat, genauso wie der Fülosof Heidegger.
    Beides asymetrisch intelligente Bürgerliche, keinen Deut gescheiter als die meisten damaligen deutschen Bürgerlichen:
    Nur eltiär und strunzdumm.

    Erik

    Kommentar von Erik — 28. Februar 2007 @ 11:51

  2. Was du nicht alles glaubst, geschätzter Erik! Hier die beiden Teile (auch in zwei getrennten Einstellungen) von “Nietzsche, Benn und die Postmoderne” des Mainzer Literatur-Professors Bruno Hillebrand, aus den Campo-Nummern 2 und 3.

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    Nietzsche, Benn und die Postmoderne

    Die deutschen Idealisten, allen voran Hegel, deuteten die Welt im Rahmen ihrer Systeme. Noch heute vermitteln uns diese Systeme die Anstrengung metaphysischer Absicherung. Letztlich gründeten diese hoch getürmten Denkgebäude in einem Glauben, in dem philosophischen Glauben, das Unendliche sei – mittels dialektischer Operationen – ins Wort zu bringen. Diese Phase absoluter Weltdeutung im Sinne idealistischer Setzung wurde abgelöst durch die ebenso apodiktisch auftretende Gegensetzung des Materialismus. Damit hatte die Tradition des Platonisch-Christlichen philosophisch ein Ende gefunden, sie kulminierte noch einmal in der Anschauung von Welt kraft einer zugeordneten Idee. Zu erinnern ist noch die Tatsache, dass schon zur Zeit seiner höchsten Entfaltung dem deutschen Idealismus verdächtigte Absturzsymptome entgegenstanden. Der Nihilismus war schon im 18. Jahrhundert die komplementäre Erlebnisform zum Idealismus, die philosophischen Höhenflieger allerdings registrieren das nicht, den Absturz erfuhren als erste die Literaten. Der dogmatisch gezimmerte Ideenhimmel trug sie nicht mehr, Gott und das Absolute hatten sich aufgelöst in ein schauriges Nichts. Die anonym veröffentlichten Nachtwachen des Bonaventura sind 1804 ein einzigartiges Dokument. Das Syndrom des Sinn vernichtenden Nihilismus ist die unmittelbare Folge eines hypertroph sich behauptenden Idealismus.

    Dies als Rückblick von Nietzsches Standort aus, denn er war es ja, der revolutionär umdachte im Sinne einer Umwertung aller Werte, und das betraf gerade jene oberste Wertregion, die seit zwei Jahrtausenden die abendländische Weltdeutung garantiert hatte. Nietzsche stellte fest: Die Welt hat keinen Sinn hinter sich, es gibt unzählige Sinne. Für diese umstürzende Erkenntnis setzte er den Begriff des Perspektivismus. Es gibt keine festgelegten Maßstäbe, metaphysisch lässt sich ohnehin nichts vermessen, es gibt kein verbindlich zu definierendes Sein, damit auch keinen ontologisch greifbaren Sinn, überhaupt nichts Ruhendes, Unumstößliches. Statik gibt es weder im Kosmos noch in der Natur noch im menschlichen Orientierungsraum, schon die Wörter sind suspekt geworden: Orientierung, Harmonie, Sein, Ordnung. Metaphysisch deutbare, sprachlich zu fixierende Tatsachen und Gesetze gibt es nicht, so Nietzsche mit unnachgiebiger Apodiktik, es gibt nur Interpretationen. Zu beachten ist der Plural, der sich ins Unendliche ausdehnen lässt. Es gibt keine alleinseligmachende Interpretation, so steht es in einem Brief. Diese Einsicht Nietzsches hat unser Weltbild so gründlich verändert, wie Einstein es veränderte, metaphysisch wie kosmisch rückte der Relativitätsbegriff in die oberste Wertzone von Weltorientierung. Das alte statische Weltmodell wurde abgelöst durch ein dynamisches, alles kreist jetzt um alles. Das neue Denken also ist ein kreisförmiges Denken, in dem es keinen festen Standort mehr gibt, Subjekt und Objekt wechseln je nach Perspektive, das Verhältnis von auslegendem Subjekt und ausgelegtem Objekt ist relativ und offen nach allen Seiten.

    Geschlagen mit der nötigen Urteilstrübung könnte man sagen, der Postmodernismus war damals schon ausgebrochen, also vor hundert Jahren. Mit dem Schlachtruf des Pluralismus: alles ist relativ, damit offen nach allen Seiten, alles ist möglich, anything goes. War Nietzsche demnach der erste Postmodernist? Es gibt Leute, die das behaupten, vermutlich gehört auch solcher Unsinn zum postmodernen Diskurs. Es ist eben alles möglich, wenn nichts feststeht, aber widersinnig ist es, schon vom Begriff her, denn die Moderne wird hier einfach übersprungen, zu deren Gründungsvätern ja gerade Nietzsche zu zählen ist. Nein, so sprunghaft leichtfertig kann man nicht umgehen mit einem Denken, das nach dem Tode Gottes dem Menschen die äußerste Verantwortung von Weltdeutung und Welteinrichtung zuschreibt. Etwas im Menschen stellt die Frage, muss sie stellen: Was hat einen Wert und wie ist dieses Werten zu begründen? Nietzsches Glaube ist ausgerichtet auf einen solchen zentralen Wertmesser, er spricht vom Gesetz der Perspektive und dieses Gesetz ist ein vom Menschen gesetztes in metaphysischer Dimension. Der Künstler ist der Setzende, die Kunst wird damit zur obersten Instanz der Weltdeutung, gemeint ist nicht die Kunst der Kunstwerke allein. Es gibt ein verborgenes Zentrum im Menschen, das ist zuständig für den ständig zu erneuernden Prozess metaphysischer Deutung. Natürlich ist das alles immanent gemeint, das versteht sich von selbst.

    Es sind unsere Gesetze und Gesetzmäßigkeiten, die wir in die Welt hineinlegen, sagt Nietzsche, nur eine dichterisch-logische Macht in uns errichtet die Perspektiven zu allen Dingen, und so erhalten wir uns am Leben. Die Umformung der Welt, um es in ihr aushalten zu können – ist das Treibende. Hier ist der Treibsatz des Ganzen auf eine Formel gebracht. Das ist ein Prozess, der nicht geradlinig verläuft, eben nicht logisch, der poetisch gesteuert ist, immer aufs innigste verbunden mit Täuschung und Irrtum: „denn alles Leben ruht auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Notwendigkeit des Perspektivischen und des Irrtums.“ Damit stehen wir vor dem Kardinalproblem von Nietzsches Denken, dem Verhältnis von Leben und Kunst. Hier ist keineswegs alles möglich, Wertmesser ist immer das Leben, ihm ist die Künstlerethik verpflichtet, das Leben fordert seine Steigerung in die je eigene Möglichkeitsform. Von der Wollust des Schaffenden spricht Nietzsche, Gradmesser ist das Leben mit seinem Anspruch auf Gestaltung, und das heißt Umgestaltung, der Künstler erfährt diesen Zustand aufs äußerste: „Lust am Gestalten und Umgestalten – eine Urlust!“ Der Perspektivismus steht demnach im Dienste eines schöpferischen Geistes, der die Notwendigkeit zum Formen und Umformen nicht spirituell abgehoben erfährt, der vielmehr physiologisch eingebunden in Erscheinung tritt, organisch, ganzheitlich bis zu den Höhen äußerster Steigerung.

    Die außerordentliche Faszination, die von Nietzsche ausging seit der Jahrhundertwende, hat an Intensität nicht nachgelassen, sie hatte Brechungen, Einbrüche, denken wir nur an den politischen Missbrauch, an die perverse Ideologie des Faschismus, an den späteren Boykott, das Totschweigen ab den 60er Jahren, diesen blinden Widerstand, ebenso martialisch wie materialistisch vertreten von Seiten der Marxisten, aber dem Werk und seinen brillanten Ideen hat das nicht geschadet. Seit einigen Jahren ist das Interesse wieder erwacht, verwegen in Frankreich, gediegener in Deutschland, editorisch in Italien. Dieses neue Interesse an Nietzsche hängt ganz sicher zusammen mit der nachlassenden Dominanz der Gesellschaftswissenschaften, das einerseits, wir haben seit einiger Zeit ganz einfach die Lust verloren an rein praxisorientierter Theorie im Überangebot, an dogmatischer Utopie, an geschichtsphilosophischen Spekulationen, die immer noch den Hegelschen Messianismus transportieren oder transportierten, denn vermutlich ist es vorbei mit diesem missionarischen Glauben. Andererseits zeichnet sich am heutigen Geisteshorizont jener bedenkliche Irrationalismus ab, der auf allen Gebieten der Kultur durchbricht wie der Spargel bei feuchtwarmer Witterung. Die Weltverbesserer sterben ja nicht aus, sie wechseln nur die Kleidung. Und wo es um Kleidung geht, geht es auch um Mode. Wobei die Mode wiederum Ausdruck ist des so genannten Zeitgeistes, man trägt eben Postmodernismus zur Schau, seit der Modernismus offenbar in die Jahre kam und an Attraktivität verloren hat. Natürlich sind das alles unausgewiesene Vokabeln, denn was ist schon der Zeitgeist? Und was den Postmodernismus betrifft, es wäre schon ein full time job, alle ihn betreffenden Kongresse und Symposien zu besuchen, die Publikationen zu verfolgen, wenn auch nur diagonal, um am Ende mit dem Wissen beglückt zu sein: anything goes.

    Mit einem Wort, wir sind der Aufklärung müde, wir haben den Materialismus, als Denkmodell zumindest, eben in historisch-dialektischer Ausführung, hinter uns gebracht, wir sind nicht mehr futuristisch fixiert, die Geschichte unserer Erwartungen hat uns schon überholt, wir haben die Metaphysik verloren, die Ontologie, damit die Wahrheit weder die Kunst noch die Philosophie haben es mit Referenzen und Finalitäten ontologischer Art zu tun, zu Hülsen wurden die Begriffe Einheit, Totalität, das Ganze – vom Sein überhaupt zu schweigen. Der riesige Prozess des Sinnverlustes, wie Jean Baudrillard es ausgedrückt hat, ist über uns hinweggespült, oder in der Deutung Jean-François Lyotards: Alles, was einmal feststand, hat sich aufgelöst in pure Energetik. Kunst und Philosophie sind nur noch Energieumwandlungen, die nicht mehr auf ein Gedächtnis, ein Subjekt, eine Identität zurückgeführt werden können. Also zu Ende ist es mit den Utopien der Einheit, der Versöhnung, der universellen Harmonie. Statt dessen ist ein universaler Spieltrieb ausgebrochen – jenseits von Trauer um das Verlorene. Alles, was je die Geschichte hervorgebracht hat, kann jetzt zitiert werden, eklektisch, ohne den Anspruch des Eklektizismus, historisch ohne den Ernst, man muss schon sagen, den Bierernst des Historismus. Neuer Realismus, neuer Subjektivismus, neuer Expressionismus, neue bis neueste Sensibilität in Literatur und Malerei – also, anything goes. Alles ist möglich, selbst das Unmögliche. Und das, wie gesagt, spielerisch nach Art der Skateboarder oder Inlineskater mit dem Walkman im Ohr. Wenn Adorno noch postulierte: „Die Male der Zerrüttung sind das Echtheitssignal von Moderne“, dann setzt die Postmoderne augenzwinkernd über den Zaun aus Tragik und Zerfall, setzt sich ab in Richtung fröhliche Wissenschaft, der Abschied vom Prinzipiellen ist geschafft.

    Mit Blick auf Nietzsche könnte das heißen, wir haben den Nihilismus überwunden und uns eingerichtet in einem fidelen Relativismus. Alles steht uns jetzt zur Verfügung, die Geschichte wurde zum Baukasten unseres artistischen Spieltriebs, in der Literatur, in der Malerei, in der Musik, in der Architektur ohnehin. Die Versatzstücke der Kultur werden in beliebigem Einsatz neu arrangiert, montiert, collagiert mit dem Ziel effektvoller Wirkung. Efficiency als Parameter der Ästhetik. Das ist neu. Diese oberflächige, scheinhafte, austauschbare Dekonstruktion von Bedeutung und Tiefe, dieser Widerstand gegen jede Einheit in Form von fingierter Sinn-Totalität, das alles, könnte man meinen, lässt sich mühelos zurückführen auf Nietzsches Ästhetik, auf deren Hauptwerkzeug, nämlich die Negation, die ja der Orgelpunkt der Moderne ist, das Nein zum Kunstwerk als konstruiertem Sinnzusammenhang, das Ja zur ästhetischen Integration des Abgespaltenen, Diffusen, die Hereinnahme des Nicht-Integrierten, Subjektfernen, scheinbar Sinnlosen, die Montage des Heterogenen und nicht des Homogenen als Material.

    Aber, mühelos lässt sich das alles nicht auf Nietzsche zurückführen, obwohl er, wie kaum ein anderer Denker, die Moderne beeinflusst hat, den Futurismus wie den Expressionismus wie den Dadaismus. Hatte nicht Nietzsche als erster den neuen Ausdrucksstil propagiert und praktiziert, jenen Perspektivismus, der losgebunden von jeder transzendenten Norm sich erfüllt in der Form, in der Oberfläche, im Olymp des Scheins? „Daß der Künstler den Schein höher schätzt als die Realität“ das war sein Credo; von der Sehnsucht zum Schein spricht er fast religiös, vom Erlöstwerden durch den Schein – Ausdruck, Form, Oberfläche und Schein, diese Stichworte haben sie begeistert aufgegriffen, die Dichter der ersten Jahrhunderthälfte, ich nenne von den deutschen nur Heinrich und Thomas Mann, Robert Musil und als Kronzeuge bis in die 50er Jahre Gottfried Benn, vehement folgten sie Nietzsches Botschaft einer epochalen ästhetischen Befreiung.

    Benn in seiner Nietzsche-Rede von 1950 – Nietzsche nach fünfzig Jahren – fasst die entscheidenden Punkte noch einmal zusammen, und er verweist damit schon auf jene Entwicklung, die letztlich vom Modernismus zum Postmodernismus geführt hat. Wahrhaftig heiße er den, der in götterlose Wüsten geht und sein verehrendes Herz zerbrochen hat. An dieses Nietzsche-Wort aus dem Zarathustra knüpft Benn an. „Dies Herz hatte alles zerbrochen, was ihm begegnete: Philosophie, Philologie, Theologie, Biologie, Kausalität, Politik, Erotik, Wahrheit, Schlüsseziehn, Sein, Identität – alles hatte es zerrissen, die Inhalte zerstört, die Substanzen vernichtet, sich selbst verwundet und verstümmelt zu dem einen Ziel: die Bruchflächen funkeln zu lassen auf jede Gefahr und ohne Rücksicht auf die Ergebnisse – das war sein Weg.“

    Ein Weg des Leidens, eine Passion, und diesem Leid standen sie noch nahe, die eben genannten Dichter und mit ihnen viele andere ihrer Altersgenossen – das unterscheidet sie fundamental, ästhetisch wie existentiell, von den nachfolgenden Generationen. Es war das Leiden an der Unerlöstheit des Geistes, das die erste Jahrhunderthälfte mit Nietzsche verband. Aber es war auch die Lust der Befreiung, und Benn trifft diesen historischen Prozess im Kern. In seiner Nietzsche-Rede von 1950: „Die Inhalte ohne Sinn, aber sein inneres Wesen mit Worten zu zerreißen, der Drang, sich auszudrücken, zu formulieren, zu blenden, zu funkeln – das war seine Existenz. Der Weg vom Inhalt zum Ausdruck, das Verlöschen der Substanz zugunsten der Expression, das war elementar.“

    Nein, mühelos lässt sich das nicht verschmelzen, ob man nun Nietzsche liest oder den Apologeten Benn, die Verbindungslinien zu unserer Situation heute sind nicht nahtlos zu ziehen. Ich sage das mit aller Entschiedenheit: Da ist etwas auf der Strecke geblieben, das sich noch gar nicht ermessen lässt. Keineswegs ist das bindungslose Spiel mit allem und mit nichts die Botschaft Nietzsches, weder die neue Unübersichtlichkeit noch die neue Unverbindlichkeit hatte er auf seine Fahne geschrieben. Ganz im Gegenteil, sein denkerischer Perspektivismus, er selbst zentriert ja in diesem Begriff seine philosophische Weltsicht, dieser Perspektivismus ist rückgebunden im Kraftzentrum dessen, der die Welt sieht, deutet, interpretiert. Das Subjekt als Erlebniszentrum hat in Nietzsches Sicht keineswegs abgedankt, ganz im Gegenteil, es erfährt eine Aufwertung wie nie zuvor, selbst Goethes Persönlichkeitsbegriff wird hier noch einmal überhöht im Sinne metaphysischer Autonomie. Nach dem Zusammenbruch der Religionen und Metaphysiken, nach der Auflösung aller dogmatischen und moralischen Bindungen gibt es für Nietzsche nur noch die individuelle perspektivische Einschätzung der Dinge und der Welt. Es gibt nur den Einzelnen und seine Art zu sehen. Daher die exorbitante Einschätzung der Kunst und des Künstlers, bis hin zu Benns apodiktischem Wort, der Künstler sei der einzige, der mit den Dingen fertig wird, der über sie entscheidet. Die Welt hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne. Es gibt keine verbindlichen Maßstäbe mehr, kein festgeschriebenes Sein, überhaupt nichts Ruhendes und Unumstößliches. Das war Nietzsches kosmische Entdeckung. Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen, auch das ein Wort von ihm.

    Wenn wir nun fragen, was interpretiert denn hier, welches Organ, welche Instanz, dann ist es nicht die kleine Vernunft, wie Nietzsche sagt, also nicht der Verstand, es ist die große Vernunft, der Leib, die Totalität des Psychosomatischen ist es, was die Welt deutet. Nietzsche hat damit den Weg gewiesen, der heute erst in seiner philosophischen Stringenz – aber auch auf den abenteuerlichen Wegen der neuroevolutionären Psychokybernetik – begangen wird. Seine epochalen Verdienste der Umwertung aller Werte sind hier zu finden, viel mehr noch als auf dem Gebiet der Moralkritik. Letztlich ist es der Widerstand gegen das cartesianische Verständnis von Erkennen und Denken, der hier entwickelt wird zu jener innovatorischen Ästhetik einer Physiologie der Kunst, deren Entdeckung und Ausformulierung Nietzsches Verdienst ist. Die große Vernunft, diese letzte Instanz argumentiert nicht reflexiv, sie stellt sich dar als Gebärde, bleibt im Bereich der Darstellung, die bildhaften Charakter hat, ist inkarniert in der Anschauung des Künstlers. Das meint die delphische Aussage, dass nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist, das Wort von der ästhetischen Rechtfertigung des Daseins überhaupt. Worum es geht, ist der absolute Anspruch, der mit der Kunst verbunden wird, aber nicht mehr im Sinne einer statischen Metaphysik des Geistes, woran die Romantiker ja noch glaubten, vielmehr im Sinne jener metaphysischen Tätigkeit im Sinne organisch-dynamischer Entwicklung, die formend zutage bringt, was im Innersten seines Wesens Weltgesetz ist.

    Wir stehen hier vor der evolutionären Grundkomponente des Lebens, vor diesem geheimnisvollen Steuerungsprinzip, das heute die Naturwissenschaften mehr noch beschäftigt als die Geisteswissenschaften. Das ist die Artisten-Metaphysik, von der Nietzsche so oft spricht, das Artistenevangelium, wie er sagt, und das ist in letzter Konsequenz immanent und physiologisch gedacht: Die Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens, die Kunst als dessen metaphysische Tätigkeit. Kulturhistorisch ist die affirmative Funktion der Kunst gerichtet gegen jede Form von Daseins-Pessimismus. Nietzsche urteilt in diesem Sinne ebenso global wie historisch universal. „Die Kunst als die einzig überlegene Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens, als das Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence.“ Es gibt keine pessimistische Kunst. Die Kunst bejaht. Das sind die späten, unabweisbaren Statements in dieser Sache: „Das Wesentliche an der Kunst bleibt ihre Daseins-Vollendung, ihr Hervorbringen der Vollkommenheit und Fülle, Kunst ist wesentlich Bejahung, Segnung, Vergöttlichung des Daseins.“ – Widerspruch ausgeschlossen, ebenso jede Relativierung. Nietzsches Relativitätsmetaphysik duldet keine Aufweichung. „Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens.“ Das bedeutet, göttlicher als die Wahrheit ist die Kunst, das bleibt sein letztes Wort, dass die Kunst mehr wert ist als die Wahrheit.

    Wenn wir hier anhalten, um zu bedenken, dass es nicht nur um die Kunst der Kunstwerke geht, auch nicht um das Phänomen des Herstellungsprozesses, der Produktion von Kunst also, dass es vielmehr um das Leben geht, das Leben in seiner Totalität als Faktum, das jede Deutung, die von außen kommt, von sich weist, das Leben, das sich selbst deutet, wenn wir das bedenken, dann allerdings haben wir wieder Grund unter den Füßen. Bei aller Relativierung und bei allem Perspektivismus ist es das Grundgesetz des Lebens im Sinne von Erdichtung und Zurechtmachung einer Welt, bei der wir selbst in unseren innersten Bedürfnissen uns bejahen. Es gibt eine perspektivisch setzende Instanz im Menschen – das ist die Botschaft, die herausspringt aus jeder Unverbindlichkeit. Diese Instanz ist ausgerüstet mit einer Richtlinienkompetenz von geradezu magischer, mystischer Qualität. Nietzsche nennt sie den Willen zur Macht, eine kryptische Formel, missbraucht und zerdeutet von Anfang an. Ich schiebe das Wort zur Seite, wie ich den Tod Gottes in Kombination mit dem Nihilismus-Syndrom auch nur erwähne, um den Rahmen abzustecken. Die Umformung der Welt, um es in ihr aushalten zu können – ist das Treibende. Das ist die Botschaft vom Perspektivismus. Sie wollen wir im Auge behalten bei der Frage, was Nietzsche uns heute zu sagen hat. Nicht, was er uns noch zu sagen hat, ich glaube, daß wir noch gar nicht wissen, was das ist.

    Es geht um Erneuerung, nicht um Trauermusik, gerade auch, wenn es um den Tod Gottes geht. Oder um den Nihilismus als Folge des zusammengebrochenen Idealismus. In beiden Fällen wurde in früheren Zeiten etwas erfunden und gesetzt vom Menschen, das in seiner hypertrophen Exklusivität nicht zu halten war. Von Platon bis zum deutschen Idealismus, dem Idealismus der Romantik, entwickelte sich, getragen vom Christentum, die Wertsphäre des Unendlichen, die Sphäre des Absoluten, das Reich Gottes, die Welt des Geistes und des Seins. Der Zusammenbruch endete nur in der lakonischen Feststellung: Gott ist tot. Die Glaubenskrise war seit langem schon virulent. Die Romantiker haben den Nihilismus entdeckt, also die Idealisten selbst. Und diese Entdeckung war epochal als Ereignis. Der Nihilismus als diagnostiziertes Phänomen ist ja an sich schon Aufbruch zu neuen Horizonten. Dass solche Grenzmarkierungen an Qualität hinter dem verlorenen Horizont des Absoluten nicht zurückstehen dürfen, das ist Nietzsches Grundpostulat. Der Zarathustra macht das ja deutlich wie kein anderes Buch. Der Übermensch ist in diesem Zusammenhang auch nur eine dubiose Formel, man sollte sich nicht daran stoßen. Auch dann nicht, wenn es heißt, der Übermensch sei der Sinn der Erde. Nietzsches Züchtungsideen sind genügend kritisiert worden, gerade auch von Benn, der allerdings zu Recht sagt, was kann Nietzsche dafür, dass die Politiker nachträglich bei ihm ihr Bild bestellten? Er meinte die Nazis.

    Es ist absurd, Nietzsche zu unterstellen, er habe den Übermenschen züchten wollen im Sinne jenes Herrenmenschen, der dann in den Köpfen der Faschisten spukte und sich niedertrat mit den Stiefeln infamster Brutalität. Nietzsche war auch kein Darwinist, nicht im Sinne eines Anhängers und Anwenders dieser revolutionären Naturforschung. Die aufmerksame Lektüre des Spätwerks in der neuen, gültigen Edition zeigt, wie sublim Nietzsches Verhältnis zu Darwin war. Es ist von Grund auf ambivalent bestimmt. Aber eines steht fest, immer mit Blick auf die widersprüchlichen Aphorismen: die Evolutionsforschung, der Entwicklungsgedanke, dieser revolutionäre Ansatz der Naturwissenschaft hat ihn tief bewegt. Nicht der Kampf ums Dasein, das sei eine Ausnahme, auch nicht die soziologischen Lehren, die man aus dem Darwinismus zog, selbst dem Selektionsprinzip stand er skeptisch gegenüber. Darwin überschätze die äußeren Umstände, heißt es in einem Nachlassfragment von 1886/87: „Das Wesentliche am Lebensprozess ist gerade die ungeheuere gestaltende, von Innen her formschaffende Gewalt, welche die äußeren Umstände ausnützt, ausbeutet.“ Auf den Innenaspekt der Evolution also kommt es Nietzsche an, und die heutige Forschung, soweit sie über den Rand ihrer Spezialgebiete hinausschaut, widerspricht dem ja keineswegs. Natürlich ohne Rückfall in die alten Denkmuster finaler Determination, auch dürfte jeder Rest von Teleologie aus dem Weg geräumt sein, spätestens seit Nietzsche, dessen intuitiver Einblick in das Systemganze des Lebens dem Geheimnis neue Freiräume eröffnet hat.

    Absurd ist es auch, Nietzsche zu unterstellen, er sei ein Fortschritts-Optimist. Weder dachte er in historischen Kategorien von Fortschritt noch in evolutionären, schon gar nicht in utilitaristischen, und ebenso wenig glaubte er anthropologisch an die positive Auslese der Deszendenztheorie im Sinne elitärer Hochentwicklung. Meine Consequenzen – so lautet die Ãœberschrift seines Fazits vom Frühjahr 1888: „Meine Gesamtansicht. – Erster Satz: der Mensch als Gattung ist nicht im Fortschritt. Höhere Typen werden wohl erreicht, aber sie halten sich nicht. Das Niveau der Gattung wird nicht gehoben. – Zweiter Satz: der Mensch als Gattung stellt keinen Fortschritt im Vergleich zu irgend einem anderen Tier dar. Die gesamte Tier- und Pflanzenwelt entwickelt sich nicht vom Niederen zum Höheren … Sondern Alles zugleich, und übereinander und durcheinander und gegeneinander.“ Und nun folgt das entscheidende Eingeständnis der Ohnmacht des Geistes im blinden Auswahlverfahren der Natur. Nietzsche fährt fort: „Die reichsten und complexesten Formen – denn mehr besagt das Wort höherer Typus nicht – gehen leichter zu Grunde: nur die niedrigsten halten eine scheinbare Unvergänglichkeit fest. Erstere werden selten erreicht und halten sich mit Not oben: letztere haben eine comprimittierende [sic] Fruchtbarkeit für sich. – Auch in der Menschheit gehen unter wechselnder Gunst und Ungunst die höheren Typen, die Glücksfälle der Entwicklung, am leichtesten zu Grunde … Das liegt an keinem besonderen Verhängnis und ›bösen Willen‹ der Natur, sondern einfach am Begriff höherer Typus: der höhere Typus stellt eine unvergleichlich größere Complexität, – eine größere Summe coordinierter Elemente dar: damit wird auch die Disgregation unvergleichlich wahrscheinlicher. – Das Genie ist die sublimste Maschine, die es gibt, – folglich die zerbrechlichste.“

    Das also drei Jahre nach Fertigstellung des Zarathustra (1883-85). Man sollte dieses Buch nicht lesen, ohne die zitierten Aphorismen im Hinterkopf zu haben. Einmal, um dessen Frechheiten zu goutieren: „Ihr seht nach Oben, wenn ihr nach Erhebung verlangt. Und ich sehe hinab, weil ich erhoben bin.“ Zum anderen, um dessen metaphysischen Appell freizulegen, die Affirmation, die Beschwörung neuer Sinnsetzung im Zeitalter des Zusammenbruchs aller Sinn-Horizonte. Ich gebe zu, der Zarathustra ist literarisch, ich meine vom Stil her, ein schwer verdaubares Buch, das hat ja schon Thomas Mann so empfunden, aber wenn man es liest mit Röntgenblick, dann stößt man auf die Goldadern unter all dem Metapherngeröll, dann eröffnet sich jene Dimension, die eine metaphysische ist ohne Rückgriff auf Transzendenz. Eine Dimension eben, die gegründet ist in immanenter Affirmation. Keineswegs leichtfertig in der Findung und Erfindung des Ja-Sagens, vielmehr erlitten in tiefster Existenznot, so steht es im Ecce homo: „Dergleichen ist nie gedichtet, nie gefühlt, nie gelitten worden: so leidet ein Gott, ein Dionysos.“ Ob das schon im Wahnsinn gesprochen ist oder nicht, spielt keine Rolle, es hieße, dem Wahnsinn die Wahrheit absprechen, wenn man so urteilt, wichtig ist hier, zu sehen, dass gerade aus solchem Leiden der neue Sinn hervorspringt: „er ist jasagend bis zur Rechtfertigung, bis zur Erlösung auch alles Vergangenen.“

    ———————————–

    Ist es eine Provokation, wenn ich jetzt, antipodisch fast, erneut das Reizwort einblende: Postmodernismus – ist das die Situation nach dem radikalen Aufbruch der Moderne, die ja Nietzsche entscheidend mit in Szene setzte, die Erschöpfung nach den Schlachten des Modernismus, die kaltgestellte Leere, die metaphysische Nullrunde, bevor es in ganz andere Richtungen weitergehen wird? Lässt sich da überhaupt ein Zusammenhang herstellen? Immerhin, dieses postmoderne Denken sagt nicht nein, sagt aber auch nicht ja, es sagt: meinetwegen, wenn schon keine normativen Verbindlichkeiten, dann eben nicht, dann ist eben alles möglich. Nur zu tief sollte es nicht sein, dieses oberflächige Dahindenken und schon gar nicht leidend. Woran auch sollte man leiden, wenn ohnehin alles relativ ist. Ich meine, da hat sich etwas gedreht in der Achse des Nihilismus – vom Leiden zur Langeweile, von der Tiefe zur Flächigkeit – das sollte man feststellen, ohne Fundamentalkritik, eben heute im Posthistoire, eben demokratisch, eben pluralistisch und entsprechend cool gestimmt, also lässig mit schwebender Distanz.

    Nur zweierlei fällt mir schwer: zu sagen einmal, was die postmodernen Diskurse uns gebracht haben an brauchbarer Erkenntnis, ich meine im anthropologischen Sinne; und zum andern, Abschied zu nehmen von fundamentalen Weisheiten (nicht Wahrheiten) der Poesie und der Philosophie über zweitausend Jahre hin. Weisheit im Sinne von Lebenserfahrung, also Kenntnis und Wissen von großen Zusammenhängen des Lebens, Vernunft und Urteilskraft betreffend, was die Griechen sophia nannten und was im Mittelalter wisheit hieß. Der Philosoph Nicolai Hartmann, Zeitgenosse Gottfried Benns, nannte das: „die ethische Geistigkeit, nämlich die das ganze Leben beherrschende Stellung des Ethos überhaupt als geistigen Grundfaktor des Menschentums“ (Hauptwerk: Ethik) Das hatte philosophische Geltung von der Antike bis in unser Jahrhundert, und zu solchem Denken gehörte primär auch die Aporetik letzter Erkennbarkeiten, gerade mit Blick auf die Grundformen des Seins, also Leben, Existenz, Bewusstsein, Geist, Freiheit – alles das bleibt letztlich rätselhaft und unerkennbar. Wo also stehen wir? Poetische Aporie, das wäre das Stichwort der künstlerischen Moderne, wollte man es auf einen philosophischen Nenner bringen. Die Rätselhaftigkeit menschlichen Seins findet Ausdruck in den labyrinthischen Strukturen der Kunstwerke. Welche Namen stünden dafür repräsentativer als die von Franz Kafka und Jorge Luis Borges? Die Dichtung Gottfried Benns lebt von der Beschwörung der Dunkelheiten des Daseins, das macht ihre poetische Faszination aus, und die funktioniert nur im antithetischen Widerspiel des Artistischen, das hatte Benn von Nietzsche gelernt. Nichts – und darüber Glasur.

    Gerade mit Blick auf Nietzsches Leiden behaupte ich, es ist ein Unterschied von Relativismus zu Relativismus, von Perspektivismus zu Perspektivismus, von der Verbindlichkeit zur Unverbindlichkeit. Nietzsche selbst nannte das die intellektuelle Redlichkeit. Ich meine, die ist in einem entscheidenden Maße abhanden gekommen in diesem ebenso ramponierten wie korrumpierten Jahrhundert. Ob von links oder von rechts, die Anpassungsmechanismen haben das ästhetische Ethos ruiniert. Aha, wird man sagen, daraus spricht das altbackene Bewusstsein anthropologischer Beharrlichkeit, der Mann ist nicht postmodern. Dagegen kann ich nur sagen: meinetwegen, denn wenn alles geht und alles möglich ist, dann auch dies, nämlich festzuhalten an bestimmten Deutungen, die der Mensch von sich selbst und seiner Ortlosigkeit im Weltall entworfen hat. Unbestreitbar etwa hat seit der Antike die tragische Deutung – in einem sehr realistischen Sinne – die Grundbefindlichkeit des Menschen künstlerisch zum Ausdruck gebracht. Denken wir nur an das Syndrom der Melancholie, das die anthropologische Selbstdeutung der Neuzeit auffallend bestimmt, in der Malerei, in der Philosophie, in der Musik, in der Literatur. Kulturmorphologisch ein schier endloses Thema, die Dunkelheit als visuelle Metapher des Undarstellbaren, denken wir nur an die Geschichte der Porträtkunst von Rembrandt bis Arnulf Rainer, an die europäische Lyrik, kulminierend im französischen Symbolismus, an die Erzählkunst von E.T.A. Hoffmann über Poe, Dostojewski, Kafka bis hin zu Thomas Bernhard, auf der Bühne dargestellt seit Shakespeare quer durch die Tradition des Trauerspiels in Europa, überall Wahnsinn und Tod, der Mensch als Bestie und als Opfer, bis zur totalen Anthropologie des Kaputtseins, etwa bei Beckett – für Optimismus bleibt in diesem Spektrum wenig Platz. Mir leuchtet einfach nicht ein, dass wir es heute so Knall auf Fall mit einem neuen Menschen zu tun haben.

    Im übrigen hat mir kein postmodernes Buch bisher Erleuchtung gebracht hinsichtlich der Verantwortung heutigen Denkens im Kreislauf der Relativismen. Auch wenn Lyotard schon früh als Titel seiner initiierenden Schrift setzte: Das postmoderne Wissen, so die deutsche Übersetzung, im Original La condition postmoderne, bin ich nach Durchgang dieses und anderer Bücher von dem Wissen nicht erleuchtet worden, was das ist, der postmoderne Zustand. Aber vielleicht ist gerade das ein Signum des Begriffs. Also, ich kann nicht sagen, weil ich es nicht weiß, was Nietzsche und Benn mit dem schillernden Denken von heute zu tun haben, nur eines weiß ich, dass der eine den Perspektivismus denkerisch-radikal eingesetzt und der andere den perspektivischen Relativismus als Stilmittel poetisch konsequent praktiziert hat, gerade in seiner späten Prosa, so spricht der Ptolemäer, so spricht der Radardenker, aber ist solches Denken darum postmodern? Bescheidener würde ich sagen, Benns späte Prosa ist unerhört modern, gerade im Hinblick auf die angesprochenen Grundphänomene Perspektivismus und Relativismus, die in der deutschen Dichtung bis dahin keinen adäquaten Ausdruck gefunden hatten.

    Natürlich sind die antiaufklärerischen Tendenzen bei Nietzsche und bei Benn den Aufklärern immer verdächtig gewesen, und unverdächtig ist es gerade nicht, wenn jetzt die Postmodernen mit Nietzsche spielen. Dass beide nicht gesellschaftskritisch in die heute geforderte Transparenz und Konvergenz der Tatsachen-Diskurse einzubringen sind, versteht sich von selbst, ebenso ihre Widerständigkeit gegenüber der Versöhnung der Sprachspiele im gesamtkulturellen Konzert, denn gerade solche Versöhnung gilt als postmodern, überhaupt hielten die beiden wenig oder gar nichts vom demokratischen Zusammenspiel pluraler Perspektiven. Kenner der Szene betonen, dass der Postmodernismus weitgehend ein ästhetischer Modernismus geblieben oder doch tief verankert ist in der ästhetischen Moderne. Das zielt auf den generellen Negations-Aspekt, und es trifft ja in der Tat zu auf Praxis und Theorie der Künste, auf den Abschied vom Ideal der Einheit und des Sinnganzen, Abschied von der Einheit des geschlossenen Werks, Abschied von der Einheit des individuellen Ichs, was alles ja Adorno schon postulierte und Wittgenstein denkerisch expliziert hatte als Zertrümmerung fundamentalistischer Letztbegründungen und utopistischer Letztlösungen.

    Gerade auf diesem Feld trat Nietzsche als der geniale Initiator einer radikalen Skepsis hervor, und Gottfried Benn folgte ihm als Protagonist der poetischen Wirklichkeitszertrümmerung und Illusionszersetzung par excellence. Die Einheit einer fingierten Sinn-Totalität in Analogie zur Sinn-Totalität eines von Gott geschaffenen Kosmos war für beide Geschichte geworden. Nicht aber die Sehnsucht, jenem Prinzip nachzuspüren, das hinter den universalen Illusionen sich verbirgt, dem göttlichen Prinzip, das zwar eine Erfindung des Menschen ist, aber in seiner uralten Herkunft und in seiner geschichtlichen Entfaltung als ein Prinzip der Unausrottbarkeit sich erwiesen hat. Die Frage also ist gerichtet auf ein Letztes, das sich nicht mehr hinterfragen lässt, Nietzsche nannte es das Leben, Benn beschwor es als Geist. Ist das vielleicht der Unterschied zu heute, wie ja der Unterschied feststeht zwischen Leiden und Nonchalance?

    Der Sinn der Sinnsuche war auch Benn schon verloren gegangen, ganz sicher in einem beträchtlichen Schritt über Nietzsche hinaus, aber immer noch zündete der Abschiedsschmerz in Versen von damals betörender Verführung. Dagegen und daneben schlug dann wieder radikal die frühe Lyrik zu, vernichtete, was noch einmal sich vorwagte ohne Deckung, ließ es auch wieder gelten, ließ es aufkommen zu einer letzten Blüte. In dieser Weise antinomisch arbeitete schon Nietzsche, gerade der Zarathustra zeigt das in seiner widersprüchlichen Struktur. Darum auch wurde das Werk missbraucht, konnte geplündert werden in jener ebenso schwärmerischen wie schwachköpfigen Rezeption des Jahrhundertanfangs, Nietzsches gefeierter Vitalismus, Nietzsche der Lebensphilosoph, Nietzsche der Fortschrittsprophet für Reformideologie und Jugendbewegtheit, das war das Ergebnis am Anfang, und am Ende des Missbrauchs folgte dann der Züchtungs- und Rassenwahn mit Raubtierideologie, Blonder Bestie, Sklaven- und Herrenmoral.

    Wir können nur hoffen, dass nicht eine neue Plünderungswelle über Nietzsche kommt, ökologisch-ideologisch etwa: „Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt Denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht.“ Ich gebe ja zu, dass ein solches Zitat nebenbei noch dazu verführt, das Hoffnungsgeschäft heutiger Gurus zu ruinieren. Man kann eben Nietzsche zu allem heranziehen und dienstbar machen, das zeigen die Mystagogen von gestern und von heute, denn im Augenblick gedeihen sie wieder, gerade im Ausland herrscht Nietzsche-Konjunktur. Schlimm wäre es, Nietzsches universale Lebens-Perspektive dem Irrationalismus-Bedürfnis von heute in den Rachen zu werfen. Die Regression ins Esoterische, Okkultistische, in die variantesten Psychedelic-Träume, die Magic- und Mystery-Tour der siebziger Jahre, der Okkultismus-Boom der frühen achtziger und der Transpersonalisten-Kult von heute, alles das sind gefährliche Signale. Sie sind öffentlich in dem Maße, dass 1983 schon DER SPIEGEL daraus einen Titelbericht machte.

    Aufklärung als Dogma ist immer schon befeindet worden. Von den Romantikern bis zu den Expressionisten setzte man ihr ein tieferes Bild vom Menschen entgegen, als notwendiges Korrektiv; Traum und Vision wurden um so kämpferischer verteidigt, je härter der Materialismus zuschlug. Nur sollte man diesen ebenso poetischen wie philosophischen Bewegungen nicht nachsagen, sie seien irrationalistisch. In diesem pejorativen Sinne urteilt man an der Sache vorbei, es geht um die verlorene Dimension, deren Verlust immer erneut eingeklagt werden muss. Gerade das war Nietzsches zentraler Ansatz: die Umwertung aller Werte ohne Dimensionsverlust. Die Transferierung von Transzendenz in Immanenz unter demselben Energiegesetz, die Erhaltung der Spannung, der Hochspannung, im Durchlauf durch den Nihilismus, die Übertragung von Verbindlichkeit vom Jenseits auf das Diesseits, darum das Wort: bleibt der Erde treu.

    Das also ist metaphysisch gedacht, denn es fordert zugleich Pfeile der Sehnsucht nach dem andern Ufer. Das andere Ufer, das ist der neue Mensch, der die Transformation geleistet hat ohne Spannungsverlust. „Es ist an der Zeit, dass der Mensch sich sein Ziel stecke. Es ist an der Zeit, dass der Mensch den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze.“ – „Eure Liebe zum Leben sei Liebe zu eurer höchsten Hoffnung: und eure höchste Hoffnung sei der höchste Gedanke des Lebens!“ Nietzsche selbst spricht vom ja-sagenden Pathos dieses Buches im Zusammenhang des Gedankens von der ewigen Wiederkunft des Gleichen, wie ein Blitz habe ihn die Erkenntnis getroffen, diese totale Umwertung von Ewigkeit in Zeit. Was früher der Ewigkeit in toto übertragen wurde, wird jetzt punktuell und unersetzbar, damit im Tiefsten verbindlich. Im Augenblick verdichtet sich die Zeit, die Vergangenheit und die Zukunft. Nietzsche nennt das die höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann. Die Welt ist ewig, die Zeit ist ewig, alles hat sich schon immer ereignet und wird sich immer wieder ereignen. „So diesen Augenblick, er war schon einmal da und viele Male und wird ebenso wiederkehren.“ Das Leben ist eine Sanduhr, immer wieder wird sie umgedreht werden und immer wieder wird sie auslaufen.

    Der Augenblick wurde zur metaphysischen Formel des neuzeitlichen Menschen, seit die Ewigkeit umschlug in Zeit. „Was man von der Minute ausgeschlagen, gibt keine Ewigkeit zurück.“ So Schiller in dem Gedicht Resignation – was er noch betrauerte, jetzt hat es eine Wende erfahren. Kein Wunder, dass im Zeitalter der Aufklärung das Bewusstsein reifte für diese Fundamentalerfahrung. Die Gunst des Augenblicks. Titel eines Gedichts, Schiller bringt die Erkenntnis damit auf eine Formel. „Und der mächtigste von allen Herrschern ist der Augenblick.“ Allerdings, man setzte immer noch auf Höheres, auf ein Ideal, das gleichsam über dem Augenblick waltet, das zeigt ja der Faust; der Pakt mit dem Teufel am Anfang und die letzten Worte des uralten Faust, es geht um den Augenblick, der ebenso trügerisch wie vergänglich das Leben bestimmt. Aber im zweiten Teil dieses bewegenden Dramas vom neuzeitlichen Menschen steht auch das prophetische Wort: „Dasein ist Pflicht, und wär‘s ein Augenblick.“ Es geht um den Sinn der Erde, dieses Zarathustra-Wort hätte Goethe unbedenklich unterschrieben.

    Ich schließe den Zirkelschlag, den ich um Nietzsche, in der gebotenen Kürze, gezogen habe. Noch ein Wort zu Benn, den diese Gedanken erstaunlich unberührt gelassen haben, er dachte eben nicht als Philosoph, er stilisierte als Künstler. Und das in voller Übereinstimmung mit Nietzsche, immer wieder spricht er vom Ideal der Vollkommenheit, und das ist für ihn die Makellosigkeit des künstlerischen Stils, die Verachtung des nur Gefühlten, des Dumpfen, Amorphen; Stil, sagt er, ist die Wendung gegen Innenleben, guten Willen. Das Gegenteil von Kunst sei nicht Natur, sondern gut gemeint. Eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, göttlich künstliche Kunst, das forderte schon Nietzsche, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben. Begeistert stimmte Benn ihm zu, steigerte noch diese Metaphorik aus Helligkeit, Wurf und Glanz, so feierte er durch Jahrzehnte den Oberflächenstil, diese neue, nach außen gelagerte Welt. Tragschwingen, leicht gehämmert, Schwebendes unter Azur. Die äußerste Verbindlichkeit dieser Ästhetik ist zugleich ihr Wertmesser, diese Kunst, sagt Benn, ist das Ergebnis der Transferierung von Substanz in Form, eine anthropologische Erlösung im Formalen. Alle Menschen der Tiefe, hat Nietzsche gesagt, schätzen als das beste an den Dingen, dass sie eine Oberfläche haben. Und bei Benn wiederum lesen wir das Wort vom Verströmen der letzten arthaften Substanz in die Gestaltung. Das alles ist doch nur zu deuten im Sinne einer Verlagerung, nicht im Sinne eines Verlustes. Gott ist Form. In diesem Zusammenhang deklariert Benn das Phänomen der Artistik mit erstaunlicher Offenheit als tief, religiös und sakramental. Die stilistische Makellosigkeit und Reinheit dürfe nicht geringer sein als das inhaltliche Denken früherer Epochen, selbst bis zu den Graden vor dem Schierlingsbecher und vor dem Kreuz.

    Radikaler ließ sich die Position nicht bestimmen, Benn scheute keinen Vergleich. Und vor dieser Folie erst entfaltet sein artistisches Spiel Glanz und Tiefe einer letzten ästhetischen Wahrheit. Einer Wahrheit, die anders nicht mehr zu vermitteln ist. In der Brillanz der perspektivischen Brechungen, in diesem Einerseits-andererseits, sowohl als auch, in den Antinomien und Ambivalenzen leuchtet der Lebenssinn noch einmal auf, das ist der Möglichkeitssinn, der Montagesinn, der sich zurückführen lässt, immer noch, in den geheimnisvollen Produktionskern des Subjektes. Der Künstler ist der einzige, der mit den Dingen fertig wird, der über sie entscheidet, und ich möchte diesem Benn-Wort hinzufügen, das ist so, weil nur der Künstler perspektivisch entscheidet, spielerisch, frei schwebend, ohne Nötigung von außen. Nur er verfügt über die Freiheit, die ihn freisetzt vom Zwang der Alltagsmechanismen. Im Künstler bewahrt sich als Instanz der unverzichtbare Wertmesser im universalen Deutungsspiel. Dieser Anspruch ist ja keineswegs verloren gegangen, bis heute nicht. Die künstlerische Form einigt das Unvereinbare, spielt dialektisch, aber diese Dialektik führt nicht zur Synthese, sie führt nur vor, nämlich das Spiel der Antinomien. Benn steigert diese Haltung mit den Jahren zu einem routiniert gehandhabten Lustprinzip.

    Dieser ambivalente Perspektivismus relativiert alles, gerade auch sich selbst. So im Roman des Phänotyp, so im Ptolemäer, hier wird nicht äußeres Leben erfunden, sondern inneres zum Ausgleich gebracht. Bei allem Dualismus ist das Elend aufgehoben in der Perspektive dessen, der sie vertritt. Der Mann im Lotosland, Spezialist für Kosmetik und Schönheitspflege, dieser verschwiegene Mann, der mehr zuhört als spricht, der die Balancen liebt, der in Gelassenheit lebt, sein Schönheitsinstitut sei nicht errichtet auf Golgatha, lautet die Botschaft, es schwebt gleichsam auf dem Olymp des Scheins. „Nach meiner Theorie müssen Sie Verblüffendes machen, bei dem sie am Schluß selber lachen. (Das nenne ich eine schlechte Weisheit, bei der es nicht ein Gelächter gab, Nietzsche.) Sie müssen alles selber wieder aufheben: dann schwebt es.“ Das ästhetische Spiel trägt sich selbst, es birgt in seiner Tragfähigkeit den Wahrheitsanspruch des Kunstwerks und des Lebens. Der perspektivische Relativismus stößt hier an die Grenze avantgardistischer Mitteilung über den Zustand des Menschen, über sein Bewußtsein, seine Anschauung von Welt. Eine geschlossene Weltanschauung stand früher hinter dem geschlossenen Kunstwerk. Hinter der Offenheit artistisch montierter Kunst steht nichts mehr, das sich in ein festes Bild bringen ließe. Das neue Bewußtsein schuf sich neue Ausdrucksformen: die Zersplitterung der Einzelteile, die collagierte Montage, das Zitat als Aufruf des Gewesenen und Möglichkeit des Zukünftigen, das trägt in seinen bildhaften Zügen die Male der Existenzmitteilung mit dem gleichen Ernst wie es die Werke vergangener Zeiten taten. Das Spiel ist scheinbar nur ein Spiel, unter der Oberfläche, sagt Benn, verbergen sich genügend Dunkelheiten, um auch den Tiefsinnigsten zu befriedigen. Im Dunkel leben, im Dunkel tun, was wir können. Aber mit der gebotenen Distanz, auf dem Niveau heutiger Erkenntnis vom Zustand des Menschen und den Grenzen seiner Erkenntnisfähigkeit. Keineswegs sei das Pessimismus, die Perspektiven heranzuführen an den Rand des Dunkels und Haltung zu bewahren, auch vor diesem Dunkel, sagt einer der drei alten Männer. Und der andere: Steigern Sie Ihre Augenblicke, das Ganze ist nicht mehr zu retten.

    Was Benn von Nietzsche unterscheidet, ist sein Finalaspekt, die These vom Untergang des Quartär, das sollte man festhalten. Es bleibt der Perspektivismus, metaphysisch wie artistisch grundiert, das ist die Umwertung der anthropologischen Grundsituation. Und mit ihrem Wahrheitsanspruch, so relativ er ist, hat sie genügend Zukunft in sich, um jeder leichtfertigen Destruktion, jeder Abbruchstimmung zu widerstehen. Es gibt das Fazit der Perspektiven, und es gibt die daraus resultierende Konsequenz. Die Mythen sind endgültig verbraucht, am gründlichsten der Schöpfungsmythos vom Sinn des Einzelnen und des Ganzen. Das einerseits – und andererseits das künstlerische Postulat. „Der Mensch muß neu zusammengesetzt werden aus Redensarten, Sprichwörtern, sinnlosen Bezügen, aus Spitzfindigkeiten, breit basiert –: Ein Mensch in Anführungsstrichen. Seine Darstellung wird in Schwung gehalten durch formale Tricks, Wiederholungen von Worten und Motiven – Einfälle werden eingeschlagen wie Nägel und daran Suiten aufgehängt.“

    So spricht der Eremit des Doppellebens. Das alles hat ja die experimentelle Literatur weitergeführt, bis heute, das also war avantgardistisch, in der Prognose wie in der Durchführung. Und das betrifft gerade jene verlorenen, heute verlogenen Zusammenhänge, die man immer noch so gerne konstruiert und konsumiert, im Leben wie in der Kunst. Wer lebt schon in Symbiose mit den Abenteuern progressiver Kunst. Die Bestsellerindustrie floriert nach wie vor, lebt von den psychosozialen Mustern der Teppichknüpfer. Der Mensch braucht das wohl, dringender offenbar als das Eingeständnis des Relativismus. Er lebt von der verschleiernden Sehnsucht nach Geborgenheit und kleinem Glück. Die Serien im Fernsehen bestätigen nur diesen unausrottbaren Trieb auf unterster Betriebsebene.

    Dagegen also die perspektivisch aufreißende Kunst, der Mensch in Anführungsstrichen, die artifizielle Provokation. Weil er es lebte, weil er es dachte, weil er es fühlte, konnte Benn schreiben, was so zwingend sich relativiert. Weil er spielerisch das Leben sah, gab er ihm jene Würde zurück, die am Ende ein verlogener Ontologismus getilgt hatte. Die Würde der Wahrheit, die Würde des Faktischen, die Schönheit einer bedingungslosen Offenheit. Diese Haltung teilte er mit Nietzsche, die Haltung einer ebenso bedingungslosen wie fundamentalen Tapferkeit. Existentiell ist ein Lieblingswort von Benn, und es ist nicht zuviel gesagt, dass in der Zone des Existentiellen der Perspektivismus seine metaphysische Verankerung gefunden hat. Die totale Relativierung, das spielerische Einerseits – Andererseits, das ist eben nicht die totale Säkularisation. Der Phänotyp spielt mit der Ambivalenz, aber der Stundengott durchzieht das Werk mit der Botschaft vom primär gebauten Satz, von der Verwandlungszone der Kunst, mit dem Auftrag, das Nebeneinander der Dinge zu ertragen. – „Jegliches Spiel ist nutzlos, aber auch der Ruhm und die Schönheit, alle Spiele der Götter sind es und je nutzloser um so göttlicher –: glauben Sie das? – Aller Glanz, den wir in unserer Seele tragen, kommt von Dingen, die wir erschaffen haben.“

    Solche Sätze stehen im Roman des Phänotyp, geschrieben in der dunkelsten Zeit deutscher Geschichte, 1944 in einer Kaserne östlich der Oder, während die Russen näher rückten. Alles ist brüchig geworden, aber aus dem Zusammenbruch gerade erhebt sich die Möglichkeit neuer Weltdeutung. Wohin das Auge schweift, Möglichkeiten, Motive, Anspielungen, Perspektiven, – so beschwört es der Phänotyp. „Etwas Unstillbares ist dabei, etwas, das das Herz zerreißt. Neue ferne Wogen, kaum erkennbare Verwandlungen, Spätheiten – und unerfüllbar alles.“ – „Das unmittelbare Erleben tritt zurück. Es brennen die Bilder, ihr unerschöpflicher beschirmter Traum. Sie entführen.“ Sehr viel Poesie bergen diese Sätze, aber das nur einerseits, andererseits gibt es das Wort vom prismatischen Infantilismus als Antwort auf triviale Tiefgründigkeit, die Absage an alle Hinterweltler, deren Positionen die modernen Künstler lange schon geräumt haben. „Sie tapezieren mit sich selbst und nichts kann sie erlösen.“ Gemeint sind die progressiven Künstler. Ihr Inneres müssen sie verleugnen, düpieren, Farcen mit ihm treiben, das sei die Voraussetzung für Poesie. So in Altern als Problem für Künstler. Die äußere Kausalität schafft nichts heran, nur die inneren Perspektiven eröffnen die Welt, alles steht zur Verfügung, wer mit Radar arbeitet, hat die Struktur auf dem Bildschirm. „Das sind Perspektiven!“ Freut sich der Radardenker. „Ich habe mich sehr genau beobachtet, ich bin mir so nebensächlich, dass ich das kann.“

    Jahrzehnte vor dem Ausbruch postmodernen Experimentierens verströmt noch einmal der Glanz der Seele, kann und darf aufleuchten, weil er experimentell facettiert in Erscheinung tritt. Was sich als Inhalt nicht mehr vorstellen lässt, erscheint gereinigt als purer Ausdruck. Rückgebunden aber ist diese Sehnsucht nach Glanz und Erlösung immer noch im personalen Zentrum metaphysischer Erfahrung, die letztlich eine religiöse ist. Das hat sich geändert, und gerade diese Änderung trägt das Signum der Postmoderne. Mit ihrem Experimentieren wolle heute die Kunst etwas hervorbringen, „worin es nicht mehr darauf ankommt, ob ein Subjekt sein Leiden objektiviert und als Sinn erkennt“ – das war die Einsicht Lyotards von 1979 (Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens). Das mag auch heute noch gelten, gilt dann aber schon lange, insofern der Abschied vom Subjekt und seinem Leiden schon den dadaistischen Manifesten eingeschrieben war. Die daraus resultierende Tradition des Experimentellen war immer subjektfeindlich eingestellt, die Wiener Gruppe wie die Konkreten. Die Unterscheidung also muss getroffen werden im Innern des Begriffs: Das Experimentieren mit existentiellen Erlebnisformen ist etwas anderes als das pure Jonglieren mit Sprache. Der Relativismus liegt beiden Spielformen zu Grunde, offenbar kommt es darauf an, was relativiert wird und von welchem Standort aus.

    Dem Text liegt ein Vortrag zu Grunde, der an der Washington State University in Seattle gehalten wurde. Erstdruck in: Il cacciatore di silenzi. Studi dedicati a Ferruccio Masini. Roma 1998. Später in: Bruno Hillebrand: Was denn ist Kunst? Essays zur Dichtung im Zeitalter des Individualismus. Göttingen 2001.

    Kommentar von Campo-News — 28. Februar 2007 @ 17:41

  3. Ist es eine Provokation, wenn ich jetzt, antipodisch fast, erneut das Reizwort einblende: Postmodernismus – ist das die Situation nach dem radikalen Aufbruch der Moderne, die ja Nietzsche entscheidend mit in Szene setzte, die Erschöpfung nach den Schlachten des Modernismus, die kaltgestellte Leere, die metaphysische Nullrunde, bevor es in ganz andere Richtungen weitergehen wird? Lässt sich da überhaupt ein Zusammenhang herstellen? Immerhin, dieses postmoderne Denken sagt nicht nein, sagt aber auch nicht ja, es sagt: meinetwegen, wenn schon keine normativen Verbindlichkeiten, dann eben nicht, dann ist eben alles möglich. Nur zu tief sollte es nicht sein, dieses oberflächige Dahindenken und schon gar nicht leidend. Woran auch sollte man leiden, wenn ohnehin alles relativ ist. Ich meine, da hat sich etwas gedreht in der Achse des Nihilismus – vom Leiden zur Langeweile, von der Tiefe zur Flächigkeit – das sollte man feststellen, ohne Fundamentalkritik, eben heute im Posthistoire, eben demokratisch, eben pluralistisch und entsprechend cool gestimmt, also lässig mit schwebender Distanz.

    Nur zweierlei fällt mir schwer: zu sagen einmal, was die postmodernen Diskurse uns gebracht haben an brauchbarer Erkenntnis, ich meine im anthropologischen Sinne; und zum andern, Abschied zu nehmen von fundamentalen Weisheiten (nicht Wahrheiten) der Poesie und der Philosophie über zweitausend Jahre hin. Weisheit im Sinne von Lebenserfahrung, also Kenntnis und Wissen von großen Zusammenhängen des Lebens, Vernunft und Urteilskraft betreffend, was die Griechen sophia nannten und was im Mittelalter wisheit hieß. Der Philosoph Nicolai Hartmann, Zeitgenosse Gottfried Benns, nannte das: „die ethische Geistigkeit, nämlich die das ganze Leben beherrschende Stellung des Ethos überhaupt als geistigen Grundfaktor des Menschentums“ (Hauptwerk: Ethik) Das hatte philosophische Geltung von der Antike bis in unser Jahrhundert, und zu solchem Denken gehörte primär auch die Aporetik letzter Erkennbarkeiten, gerade mit Blick auf die Grundformen des Seins, also Leben, Existenz, Bewusstsein, Geist, Freiheit – alles das bleibt letztlich rätselhaft und unerkennbar. Wo also stehen wir? Poetische Aporie, das wäre das Stichwort der künstlerischen Moderne, wollte man es auf einen philosophischen Nenner bringen. Die Rätselhaftigkeit menschlichen Seins findet Ausdruck in den labyrinthischen Strukturen der Kunstwerke. Welche Namen stünden dafür repräsentativer als die von Franz Kafka und Jorge Luis Borges? Die Dichtung Gottfried Benns lebt von der Beschwörung der Dunkelheiten des Daseins, das macht ihre poetische Faszination aus, und die funktioniert nur im antithetischen Widerspiel des Artistischen, das hatte Benn von Nietzsche gelernt. Nichts – und darüber Glasur.

    Gerade mit Blick auf Nietzsches Leiden behaupte ich, es ist ein Unterschied von Relativismus zu Relativismus, von Perspektivismus zu Perspektivismus, von der Verbindlichkeit zur Unverbindlichkeit. Nietzsche selbst nannte das die intellektuelle Redlichkeit. Ich meine, die ist in einem entscheidenden Maße abhanden gekommen in diesem ebenso ramponierten wie korrumpierten Jahrhundert. Ob von links oder von rechts, die Anpassungsmechanismen haben das ästhetische Ethos ruiniert. Aha, wird man sagen, daraus spricht das altbackene Bewusstsein anthropologischer Beharrlichkeit, der Mann ist nicht postmodern. Dagegen kann ich nur sagen: meinetwegen, denn wenn alles geht und alles möglich ist, dann auch dies, nämlich festzuhalten an bestimmten Deutungen, die der Mensch von sich selbst und seiner Ortlosigkeit im Weltall entworfen hat. Unbestreitbar etwa hat seit der Antike die tragische Deutung – in einem sehr realistischen Sinne – die Grundbefindlichkeit des Menschen künstlerisch zum Ausdruck gebracht. Denken wir nur an das Syndrom der Melancholie, das die anthropologische Selbstdeutung der Neuzeit auffallend bestimmt, in der Malerei, in der Philosophie, in der Musik, in der Literatur. Kulturmorphologisch ein schier endloses Thema, die Dunkelheit als visuelle Metapher des Undarstellbaren, denken wir nur an die Geschichte der Porträtkunst von Rembrandt bis Arnulf Rainer, an die europäische Lyrik, kulminierend im französischen Symbolismus, an die Erzählkunst von E.T.A. Hoffmann über Poe, Dostojewski, Kafka bis hin zu Thomas Bernhard, auf der Bühne dargestellt seit Shakespeare quer durch die Tradition des Trauerspiels in Europa, überall Wahnsinn und Tod, der Mensch als Bestie und als Opfer, bis zur totalen Anthropologie des Kaputtseins, etwa bei Beckett – für Optimismus bleibt in diesem Spektrum wenig Platz. Mir leuchtet einfach nicht ein, dass wir es heute so Knall auf Fall mit einem neuen Menschen zu tun haben.

    Im übrigen hat mir kein postmodernes Buch bisher Erleuchtung gebracht hinsichtlich der Verantwortung heutigen Denkens im Kreislauf der Relativismen. Auch wenn Lyotard schon früh als Titel seiner initiierenden Schrift setzte: Das postmoderne Wissen, so die deutsche Übersetzung, im Original La condition postmoderne, bin ich nach Durchgang dieses und anderer Bücher von dem Wissen nicht erleuchtet worden, was das ist, der postmoderne Zustand. Aber vielleicht ist gerade das ein Signum des Begriffs. Also, ich kann nicht sagen, weil ich es nicht weiß, was Nietzsche und Benn mit dem schillernden Denken von heute zu tun haben, nur eines weiß ich, dass der eine den Perspektivismus denkerisch-radikal eingesetzt und der andere den perspektivischen Relativismus als Stilmittel poetisch konsequent praktiziert hat, gerade in seiner späten Prosa, so spricht der Ptolemäer, so spricht der Radardenker, aber ist solches Denken darum postmodern? Bescheidener würde ich sagen, Benns späte Prosa ist unerhört modern, gerade im Hinblick auf die angesprochenen Grundphänomene Perspektivismus und Relativismus, die in der deutschen Dichtung bis dahin keinen adäquaten Ausdruck gefunden hatten.

    Natürlich sind die antiaufklärerischen Tendenzen bei Nietzsche und bei Benn den Aufklärern immer verdächtig gewesen, und unverdächtig ist es gerade nicht, wenn jetzt die Postmodernen mit Nietzsche spielen. Dass beide nicht gesellschaftskritisch in die heute geforderte Transparenz und Konvergenz der Tatsachen-Diskurse einzubringen sind, versteht sich von selbst, ebenso ihre Widerständigkeit gegenüber der Versöhnung der Sprachspiele im gesamtkulturellen Konzert, denn gerade solche Versöhnung gilt als postmodern, überhaupt hielten die beiden wenig oder gar nichts vom demokratischen Zusammenspiel pluraler Perspektiven. Kenner der Szene betonen, dass der Postmodernismus weitgehend ein ästhetischer Modernismus geblieben oder doch tief verankert ist in der ästhetischen Moderne. Das zielt auf den generellen Negations-Aspekt, und es trifft ja in der Tat zu auf Praxis und Theorie der Künste, auf den Abschied vom Ideal der Einheit und des Sinnganzen, Abschied von der Einheit des geschlossenen Werks, Abschied von der Einheit des individuellen Ichs, was alles ja Adorno schon postulierte und Wittgenstein denkerisch expliziert hatte als Zertrümmerung fundamentalistischer Letztbegründungen und utopistischer Letztlösungen.

    Gerade auf diesem Feld trat Nietzsche als der geniale Initiator einer radikalen Skepsis hervor, und Gottfried Benn folgte ihm als Protagonist der poetischen Wirklichkeitszertrümmerung und Illusionszersetzung par excellence. Die Einheit einer fingierten Sinn-Totalität in Analogie zur Sinn-Totalität eines von Gott geschaffenen Kosmos war für beide Geschichte geworden. Nicht aber die Sehnsucht, jenem Prinzip nachzuspüren, das hinter den universalen Illusionen sich verbirgt, dem göttlichen Prinzip, das zwar eine Erfindung des Menschen ist, aber in seiner uralten Herkunft und in seiner geschichtlichen Entfaltung als ein Prinzip der Unausrottbarkeit sich erwiesen hat. Die Frage also ist gerichtet auf ein Letztes, das sich nicht mehr hinterfragen lässt, Nietzsche nannte es das Leben, Benn beschwor es als Geist. Ist das vielleicht der Unterschied zu heute, wie ja der Unterschied feststeht zwischen Leiden und Nonchalance?

    Der Sinn der Sinnsuche war auch Benn schon verloren gegangen, ganz sicher in einem beträchtlichen Schritt über Nietzsche hinaus, aber immer noch zündete der Abschiedsschmerz in Versen von damals betörender Verführung. Dagegen und daneben schlug dann wieder radikal die frühe Lyrik zu, vernichtete, was noch einmal sich vorwagte ohne Deckung, ließ es auch wieder gelten, ließ es aufkommen zu einer letzten Blüte. In dieser Weise antinomisch arbeitete schon Nietzsche, gerade der Zarathustra zeigt das in seiner widersprüchlichen Struktur. Darum auch wurde das Werk missbraucht, konnte geplündert werden in jener ebenso schwärmerischen wie schwachköpfigen Rezeption des Jahrhundertanfangs, Nietzsches gefeierter Vitalismus, Nietzsche der Lebensphilosoph, Nietzsche der Fortschrittsprophet für Reformideologie und Jugendbewegtheit, das war das Ergebnis am Anfang, und am Ende des Missbrauchs folgte dann der Züchtungs- und Rassenwahn mit Raubtierideologie, Blonder Bestie, Sklaven- und Herrenmoral.

    Wir können nur hoffen, dass nicht eine neue Plünderungswelle über Nietzsche kommt, ökologisch-ideologisch etwa: „Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt Denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht.“ Ich gebe ja zu, dass ein solches Zitat nebenbei noch dazu verführt, das Hoffnungsgeschäft heutiger Gurus zu ruinieren. Man kann eben Nietzsche zu allem heranziehen und dienstbar machen, das zeigen die Mystagogen von gestern und von heute, denn im Augenblick gedeihen sie wieder, gerade im Ausland herrscht Nietzsche-Konjunktur. Schlimm wäre es, Nietzsches universale Lebens-Perspektive dem Irrationalismus-Bedürfnis von heute in den Rachen zu werfen. Die Regression ins Esoterische, Okkultistische, in die variantesten Psychedelic-Träume, die Magic- und Mystery-Tour der siebziger Jahre, der Okkultismus-Boom der frühen achtziger und der Transpersonalisten-Kult von heute, alles das sind gefährliche Signale. Sie sind öffentlich in dem Maße, dass 1983 schon DER SPIEGEL daraus einen Titelbericht machte.

    Aufklärung als Dogma ist immer schon befeindet worden. Von den Romantikern bis zu den Expressionisten setzte man ihr ein tieferes Bild vom Menschen entgegen, als notwendiges Korrektiv; Traum und Vision wurden um so kämpferischer verteidigt, je härter der Materialismus zuschlug. Nur sollte man diesen ebenso poetischen wie philosophischen Bewegungen nicht nachsagen, sie seien irrationalistisch. In diesem pejorativen Sinne urteilt man an der Sache vorbei, es geht um die verlorene Dimension, deren Verlust immer erneut eingeklagt werden muss. Gerade das war Nietzsches zentraler Ansatz: die Umwertung aller Werte ohne Dimensionsverlust. Die Transferierung von Transzendenz in Immanenz unter demselben Energiegesetz, die Erhaltung der Spannung, der Hochspannung, im Durchlauf durch den Nihilismus, die Übertragung von Verbindlichkeit vom Jenseits auf das Diesseits, darum das Wort: bleibt der Erde treu.

    Das also ist metaphysisch gedacht, denn es fordert zugleich Pfeile der Sehnsucht nach dem andern Ufer. Das andere Ufer, das ist der neue Mensch, der die Transformation geleistet hat ohne Spannungsverlust. „Es ist an der Zeit, dass der Mensch sich sein Ziel stecke. Es ist an der Zeit, dass der Mensch den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze.“ – „Eure Liebe zum Leben sei Liebe zu eurer höchsten Hoffnung: und eure höchste Hoffnung sei der höchste Gedanke des Lebens!“ Nietzsche selbst spricht vom ja-sagenden Pathos dieses Buches im Zusammenhang des Gedankens von der ewigen Wiederkunft des Gleichen, wie ein Blitz habe ihn die Erkenntnis getroffen, diese totale Umwertung von Ewigkeit in Zeit. Was früher der Ewigkeit in toto übertragen wurde, wird jetzt punktuell und unersetzbar, damit im Tiefsten verbindlich. Im Augenblick verdichtet sich die Zeit, die Vergangenheit und die Zukunft. Nietzsche nennt das die höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann. Die Welt ist ewig, die Zeit ist ewig, alles hat sich schon immer ereignet und wird sich immer wieder ereignen. „So diesen Augenblick, er war schon einmal da und viele Male und wird ebenso wiederkehren.“ Das Leben ist eine Sanduhr, immer wieder wird sie umgedreht werden und immer wieder wird sie auslaufen.

    Der Augenblick wurde zur metaphysischen Formel des neuzeitlichen Menschen, seit die Ewigkeit umschlug in Zeit. „Was man von der Minute ausgeschlagen, gibt keine Ewigkeit zurück.“ So Schiller in dem Gedicht Resignation – was er noch betrauerte, jetzt hat es eine Wende erfahren. Kein Wunder, dass im Zeitalter der Aufklärung das Bewusstsein reifte für diese Fundamentalerfahrung. Die Gunst des Augenblicks. Titel eines Gedichts, Schiller bringt die Erkenntnis damit auf eine Formel. „Und der mächtigste von allen Herrschern ist der Augenblick.“ Allerdings, man setzte immer noch auf Höheres, auf ein Ideal, das gleichsam über dem Augenblick waltet, das zeigt ja der Faust; der Pakt mit dem Teufel am Anfang und die letzten Worte des uralten Faust, es geht um den Augenblick, der ebenso trügerisch wie vergänglich das Leben bestimmt. Aber im zweiten Teil dieses bewegenden Dramas vom neuzeitlichen Menschen steht auch das prophetische Wort: „Dasein ist Pflicht, und wär‘s ein Augenblick.“ Es geht um den Sinn der Erde, dieses Zarathustra-Wort hätte Goethe unbedenklich unterschrieben.

    Ich schließe den Zirkelschlag, den ich um Nietzsche, in der gebotenen Kürze, gezogen habe. Noch ein Wort zu Benn, den diese Gedanken erstaunlich unberührt gelassen haben, er dachte eben nicht als Philosoph, er stilisierte als Künstler. Und das in voller Übereinstimmung mit Nietzsche, immer wieder spricht er vom Ideal der Vollkommenheit, und das ist für ihn die Makellosigkeit des künstlerischen Stils, die Verachtung des nur Gefühlten, des Dumpfen, Amorphen; Stil, sagt er, ist die Wendung gegen Innenleben, guten Willen. Das Gegenteil von Kunst sei nicht Natur, sondern gut gemeint. Eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, göttlich künstliche Kunst, das forderte schon Nietzsche, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben. Begeistert stimmte Benn ihm zu, steigerte noch diese Metaphorik aus Helligkeit, Wurf und Glanz, so feierte er durch Jahrzehnte den Oberflächenstil, diese neue, nach außen gelagerte Welt. Tragschwingen, leicht gehämmert, Schwebendes unter Azur. Die äußerste Verbindlichkeit dieser Ästhetik ist zugleich ihr Wertmesser, diese Kunst, sagt Benn, ist das Ergebnis der Transferierung von Substanz in Form, eine anthropologische Erlösung im Formalen. Alle Menschen der Tiefe, hat Nietzsche gesagt, schätzen als das beste an den Dingen, dass sie eine Oberfläche haben. Und bei Benn wiederum lesen wir das Wort vom Verströmen der letzten arthaften Substanz in die Gestaltung. Das alles ist doch nur zu deuten im Sinne einer Verlagerung, nicht im Sinne eines Verlustes. Gott ist Form. In diesem Zusammenhang deklariert Benn das Phänomen der Artistik mit erstaunlicher Offenheit als tief, religiös und sakramental. Die stilistische Makellosigkeit und Reinheit dürfe nicht geringer sein als das inhaltliche Denken früherer Epochen, selbst bis zu den Graden vor dem Schierlingsbecher und vor dem Kreuz.

    Radikaler ließ sich die Position nicht bestimmen, Benn scheute keinen Vergleich. Und vor dieser Folie erst entfaltet sein artistisches Spiel Glanz und Tiefe einer letzten ästhetischen Wahrheit. Einer Wahrheit, die anders nicht mehr zu vermitteln ist. In der Brillanz der perspektivischen Brechungen, in diesem Einerseits-andererseits, sowohl als auch, in den Antinomien und Ambivalenzen leuchtet der Lebenssinn noch einmal auf, das ist der Möglichkeitssinn, der Montagesinn, der sich zurückführen lässt, immer noch, in den geheimnisvollen Produktionskern des Subjektes. Der Künstler ist der einzige, der mit den Dingen fertig wird, der über sie entscheidet, und ich möchte diesem Benn-Wort hinzufügen, das ist so, weil nur der Künstler perspektivisch entscheidet, spielerisch, frei schwebend, ohne Nötigung von außen. Nur er verfügt über die Freiheit, die ihn freisetzt vom Zwang der Alltagsmechanismen. Im Künstler bewahrt sich als Instanz der unverzichtbare Wertmesser im universalen Deutungsspiel. Dieser Anspruch ist ja keineswegs verloren gegangen, bis heute nicht. Die künstlerische Form einigt das Unvereinbare, spielt dialektisch, aber diese Dialektik führt nicht zur Synthese, sie führt nur vor, nämlich das Spiel der Antinomien. Benn steigert diese Haltung mit den Jahren zu einem routiniert gehandhabten Lustprinzip.

    Dieser ambivalente Perspektivismus relativiert alles, gerade auch sich selbst. So im Roman des Phänotyp, so im Ptolemäer, hier wird nicht äußeres Leben erfunden, sondern inneres zum Ausgleich gebracht. Bei allem Dualismus ist das Elend aufgehoben in der Perspektive dessen, der sie vertritt. Der Mann im Lotosland, Spezialist für Kosmetik und Schönheitspflege, dieser verschwiegene Mann, der mehr zuhört als spricht, der die Balancen liebt, der in Gelassenheit lebt, sein Schönheitsinstitut sei nicht errichtet auf Golgatha, lautet die Botschaft, es schwebt gleichsam auf dem Olymp des Scheins. „Nach meiner Theorie müssen Sie Verblüffendes machen, bei dem sie am Schluß selber lachen. (Das nenne ich eine schlechte Weisheit, bei der es nicht ein Gelächter gab, Nietzsche.) Sie müssen alles selber wieder aufheben: dann schwebt es.“ Das ästhetische Spiel trägt sich selbst, es birgt in seiner Tragfähigkeit den Wahrheitsanspruch des Kunstwerks und des Lebens. Der perspektivische Relativismus stößt hier an die Grenze avantgardistischer Mitteilung über den Zustand des Menschen, über sein Bewußtsein, seine Anschauung von Welt. Eine geschlossene Weltanschauung stand früher hinter dem geschlossenen Kunstwerk. Hinter der Offenheit artistisch montierter Kunst steht nichts mehr, das sich in ein festes Bild bringen ließe. Das neue Bewußtsein schuf sich neue Ausdrucksformen: die Zersplitterung der Einzelteile, die collagierte Montage, das Zitat als Aufruf des Gewesenen und Möglichkeit des Zukünftigen, das trägt in seinen bildhaften Zügen die Male der Existenzmitteilung mit dem gleichen Ernst wie es die Werke vergangener Zeiten taten. Das Spiel ist scheinbar nur ein Spiel, unter der Oberfläche, sagt Benn, verbergen sich genügend Dunkelheiten, um auch den Tiefsinnigsten zu befriedigen. Im Dunkel leben, im Dunkel tun, was wir können. Aber mit der gebotenen Distanz, auf dem Niveau heutiger Erkenntnis vom Zustand des Menschen und den Grenzen seiner Erkenntnisfähigkeit. Keineswegs sei das Pessimismus, die Perspektiven heranzuführen an den Rand des Dunkels und Haltung zu bewahren, auch vor diesem Dunkel, sagt einer der drei alten Männer. Und der andere: Steigern Sie Ihre Augenblicke, das Ganze ist nicht mehr zu retten.

    Was Benn von Nietzsche unterscheidet, ist sein Finalaspekt, die These vom Untergang des Quartär, das sollte man festhalten. Es bleibt der Perspektivismus, metaphysisch wie artistisch grundiert, das ist die Umwertung der anthropologischen Grundsituation. Und mit ihrem Wahrheitsanspruch, so relativ er ist, hat sie genügend Zukunft in sich, um jeder leichtfertigen Destruktion, jeder Abbruchstimmung zu widerstehen. Es gibt das Fazit der Perspektiven, und es gibt die daraus resultierende Konsequenz. Die Mythen sind endgültig verbraucht, am gründlichsten der Schöpfungsmythos vom Sinn des Einzelnen und des Ganzen. Das einerseits – und andererseits das künstlerische Postulat. „Der Mensch muß neu zusammengesetzt werden aus Redensarten, Sprichwörtern, sinnlosen Bezügen, aus Spitzfindigkeiten, breit basiert –: Ein Mensch in Anführungsstrichen. Seine Darstellung wird in Schwung gehalten durch formale Tricks, Wiederholungen von Worten und Motiven – Einfälle werden eingeschlagen wie Nägel und daran Suiten aufgehängt.“

    So spricht der Eremit des Doppellebens. Das alles hat ja die experimentelle Literatur weitergeführt, bis heute, das also war avantgardistisch, in der Prognose wie in der Durchführung. Und das betrifft gerade jene verlorenen, heute verlogenen Zusammenhänge, die man immer noch so gerne konstruiert und konsumiert, im Leben wie in der Kunst. Wer lebt schon in Symbiose mit den Abenteuern progressiver Kunst. Die Bestsellerindustrie floriert nach wie vor, lebt von den psychosozialen Mustern der Teppichknüpfer. Der Mensch braucht das wohl, dringender offenbar als das Eingeständnis des Relativismus. Er lebt von der verschleiernden Sehnsucht nach Geborgenheit und kleinem Glück. Die Serien im Fernsehen bestätigen nur diesen unausrottbaren Trieb auf unterster Betriebsebene.

    Dagegen also die perspektivisch aufreißende Kunst, der Mensch in Anführungsstrichen, die artifizielle Provokation. Weil er es lebte, weil er es dachte, weil er es fühlte, konnte Benn schreiben, was so zwingend sich relativiert. Weil er spielerisch das Leben sah, gab er ihm jene Würde zurück, die am Ende ein verlogener Ontologismus getilgt hatte. Die Würde der Wahrheit, die Würde des Faktischen, die Schönheit einer bedingungslosen Offenheit. Diese Haltung teilte er mit Nietzsche, die Haltung einer ebenso bedingungslosen wie fundamentalen Tapferkeit. Existentiell ist ein Lieblingswort von Benn, und es ist nicht zuviel gesagt, dass in der Zone des Existentiellen der Perspektivismus seine metaphysische Verankerung gefunden hat. Die totale Relativierung, das spielerische Einerseits – Andererseits, das ist eben nicht die totale Säkularisation. Der Phänotyp spielt mit der Ambivalenz, aber der Stundengott durchzieht das Werk mit der Botschaft vom primär gebauten Satz, von der Verwandlungszone der Kunst, mit dem Auftrag, das Nebeneinander der Dinge zu ertragen. – „Jegliches Spiel ist nutzlos, aber auch der Ruhm und die Schönheit, alle Spiele der Götter sind es und je nutzloser um so göttlicher –: glauben Sie das? – Aller Glanz, den wir in unserer Seele tragen, kommt von Dingen, die wir erschaffen haben.“

    Solche Sätze stehen im Roman des Phänotyp, geschrieben in der dunkelsten Zeit deutscher Geschichte, 1944 in einer Kaserne östlich der Oder, während die Russen näher rückten. Alles ist brüchig geworden, aber aus dem Zusammenbruch gerade erhebt sich die Möglichkeit neuer Weltdeutung. Wohin das Auge schweift, Möglichkeiten, Motive, Anspielungen, Perspektiven, – so beschwört es der Phänotyp. „Etwas Unstillbares ist dabei, etwas, das das Herz zerreißt. Neue ferne Wogen, kaum erkennbare Verwandlungen, Spätheiten – und unerfüllbar alles.“ – „Das unmittelbare Erleben tritt zurück. Es brennen die Bilder, ihr unerschöpflicher beschirmter Traum. Sie entführen.“ Sehr viel Poesie bergen diese Sätze, aber das nur einerseits, andererseits gibt es das Wort vom prismatischen Infantilismus als Antwort auf triviale Tiefgründigkeit, die Absage an alle Hinterweltler, deren Positionen die modernen Künstler lange schon geräumt haben. „Sie tapezieren mit sich selbst und nichts kann sie erlösen.“ Gemeint sind die progressiven Künstler. Ihr Inneres müssen sie verleugnen, düpieren, Farcen mit ihm treiben, das sei die Voraussetzung für Poesie. So in Altern als Problem für Künstler. Die äußere Kausalität schafft nichts heran, nur die inneren Perspektiven eröffnen die Welt, alles steht zur Verfügung, wer mit Radar arbeitet, hat die Struktur auf dem Bildschirm. „Das sind Perspektiven!“ Freut sich der Radardenker. „Ich habe mich sehr genau beobachtet, ich bin mir so nebensächlich, dass ich das kann.“

    Jahrzehnte vor dem Ausbruch postmodernen Experimentierens verströmt noch einmal der Glanz der Seele, kann und darf aufleuchten, weil er experimentell facettiert in Erscheinung tritt. Was sich als Inhalt nicht mehr vorstellen lässt, erscheint gereinigt als purer Ausdruck. Rückgebunden aber ist diese Sehnsucht nach Glanz und Erlösung immer noch im personalen Zentrum metaphysischer Erfahrung, die letztlich eine religiöse ist. Das hat sich geändert, und gerade diese Änderung trägt das Signum der Postmoderne. Mit ihrem Experimentieren wolle heute die Kunst etwas hervorbringen, „worin es nicht mehr darauf ankommt, ob ein Subjekt sein Leiden objektiviert und als Sinn erkennt“ – das war die Einsicht Lyotards von 1979 (Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens). Das mag auch heute noch gelten, gilt dann aber schon lange, insofern der Abschied vom Subjekt und seinem Leiden schon den dadaistischen Manifesten eingeschrieben war. Die daraus resultierende Tradition des Experimentellen war immer subjektfeindlich eingestellt, die Wiener Gruppe wie die Konkreten. Die Unterscheidung also muss getroffen werden im Innern des Begriffs: Das Experimentieren mit existentiellen Erlebnisformen ist etwas anderes als das pure Jonglieren mit Sprache. Der Relativismus liegt beiden Spielformen zu Grunde, offenbar kommt es darauf an, was relativiert wird und von welchem Standort aus.

    Dem Text liegt ein Vortrag zu Grunde, der an der Washington State University in Seattle gehalten wurde. Erstdruck in: Il cacciatore di silenzi. Studi dedicati a Ferruccio Masini. Roma 1998. Später in: Bruno Hillebrand: Was denn ist Kunst? Essays zur Dichtung im Zeitalter des Individualismus. Göttingen 2001.

    Der Autor war bis 2002 Ordinarius für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Universität Mainz.

    Kommentar von Campo-News — 28. Februar 2007 @ 17:59

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