Der neue Blog ist unter http://campodecriptanablog.apps-1and1.net erreichbar




23. August 2005

Vor 40 Jahren: Wahlkampf 1965

Abgelegt unter: Allgemein — Campo-News @ 17:08

Ein Rückblick in die Muschelzeit

Von Tanja Krienen

Der Artikel bei Spiegel-online

Stell auf den Tisch das Bild von August Bebel
Den Vorwärts, Jahrgang ´13, hol herbei,
Und klirre wieder mit dem Schutzmannsäbel
Wie einst im Mai!

Lies mir noch einmal die alten Manifeste
Der ersten Jugend holde Schwärmerei
Und reich mir die gestrickte Weste
Wie einst im Mai!

Und einmal singt die Internationale
Doch macht nicht wieder solchen Krach dabei,
Und nicht mit so pathetischem Finale
Wie einst im Mai!

Noch einmal tragt die feierlichen Fackeln!
(Die Reichswehr mit Musik ist auch dabei.)
Wer weiß, ob uns nicht doch die Ärsche wackeln.
Dereinst im Mai

Sozialdemokratisches Mailiedchen

Willy

Neben frühkindlichen Erfahrungen unterschiedlichster Art, gehören zu den positiven Erscheinungen (im Wortsinn), Vorbilder, zu denen Affekte entstanden, die sich als Vermittler einer Idee, einer Moral und eines tieferen Sinnes mit dem eigenen Lebensbereich verknüpften. Hält das Objekt die Versprechung nicht ein, kann es die projizierte Hoffnung nicht erfüllen, so enttäuscht es den idealistischen Betrachter und erschüttert ein Denkgebäude. Bei dem Mann, den ich am 17. September 1965 in einer Rede erlebte, passierte dies nie in Form eines endgültigen Bruchs. Selbst in der Zeit größter Kritik, blieb hier mehr als nur Respekt, blieb das „Vorbild“ ein Maßstab.

An diesem Tag besuchte ich mit meinen Großeltern - mein Vater arbeitete, meine Mutter werkelte im Haushalt - eine Wahlkampfkundgebung der SPD in meinem Heimatstadtteil Hagen-Eilpe. Der Redner kam aus Berlin, war dort seit neun Jahren regierender Bürgermeister und führte nun seine Partei - deren Vorsitzender er zudem seit einem Jahr war und bis 1987 blieb - zum zweiten Mal in den Bundestagswahlkampf, sein Name: Willy Brandt. Geboren wurde er als Herbert Frahm. Den Namen Willy Brandt legte er sich in der Illegalität zu.

1888 wurde im Volksmund auch das Dreikaiserjahr genannt. Wilhelm I starb am Anfang des Jahres, Friedrich III, der sogenannte 99-Tage-Kaiser folgte ihm und diesem wiederum Wilhelm II, der bis zum Ende der Monarchie im Jahre 1918 regierte. Der großen Hoffnung des liberalen Teiles der Bevölkerung, dem nach nur drei Monaten Regentschaft an Kehlkopfkrebs verstorbenen Friedrich III, hatten die Eilper Bürger 1899 ein Denkmal gesetzt. Hinter diesem Denkmal schloss sich ein Kleinstpark an, der bis zum Markplatz des Stadtteiles Eilpe (Delstern/Selbecke) reichte. An diesem Platz stand die ,,Lange Riege“, eine über 300 Jahre alte Aneinanderreihung eines halben Dutzend Fachwerkhäuser, die zusammen eine über hundert Meter lange historische Ansiedlung in der Nähe der alten Klingenschmiede bildet, welche schon zu Hansezeiten für weit entlegene Teile Europas produzierte.


Einweihung des Denkmals für Kaiser Friedrich III – die große liberale Hoffnung. Friedrich Nietzsche schrieb über seinen Tod, es sei ein „großes entscheidendes Unglück für Deutschland“. 11 Jahre nach dem Tod des Kaisers wurde das Denkmal errichtet.

Diese Kulisse zwischen dem alten Friedrich III-Denkmal und der „Langen Riege“, war die geeignete Umgebung für den Auftritts Willy Brandts, eine Umgebung allerdings, die an diesem heißen Spätsommertag kaum von den vielen Menschen beachtet, denn überhaupt wahrgenommen werden konnte, zu eng standen die Menschen hier beisammen.

Volksfestcharakter sozialdemokratischer Prägung bildete den Rahmen des Spektakels, Blasmusik, verschwitze Männer mit weißen Nylonhemden, hemdblusenkleidertragende Frauen, - die Kinder noch kurz geschoren. Betrunkene sozialdemokratische Lokalmatadore schwirrten herum, verteilten Plastikschallplatten (beidseitig bedruckt), die stimmungsvolle Werbelieder sozialdemokratischer Prägung enthielten, welche unverhohlen auf das sexuelle Image des Kanzlerkandidaten anspielte und die Titel trugen „Alle drücken ihm den Daumen“ und ,,Einmal muss man es probieren“ (Text und Komposition: Klaus-Günter Neumann, Gesang: Werner Hass und „Die Monacos“).


Alle drücken ihm den Daumen

Schöne Mädchen gehen nicht mit jedem Mann
Nur mit einem den man wirklich liebt
Nur mit dem der etwas tun und nicht nur reden kann
Und der weiß was Mädchen sich wünschen
Er sicher sich den Platz
In den Herzen für ihn gibt’s keinen Ersatz

Kluge Mädchen wählen doch nicht jeden Mann
Nur den Mann aus der Berliner Luft
Nur der Mann der zeigt, dass er noch mehr als reden kann
Wenn Sie Ihre Stimme ihm schenken
Kommt auf den ersten Platz
Unser Willy! - für ihn gibt’s keinen Ersatz.

Zwischenspiel

Er schafft es weil man ihm den Daumen drückt
Ja endlich ist dann der richt´ge dran
Wenn es ihm glückt, ist keiner mehr bedrückt
Ja er allein ist der richt´ge Mann

Refrain
Alle drücken ihm den Daumen
Alle wünschen ihm von Herzen Glück
Alle haben wir vertrauen
Dass ihm unbedingt der Erfolg gelingt er ist unser bestes Stück
Er schafft es weil man ihm den Daumen hält
Man braucht in Bonn etwas von Berlin
Was und gefällt -
Ein Stückchen große Welt!
Wir wählen Willy! Wir wählen ihn!

B-Seite:
Einmal muss man es probieren

Jedes Mädchen, das muss wissen
Es blüht einmal nur der Mai
Was man da versäumt an Küssen
Ist für alle Zeit vorbei
Darum wartet nicht so lange
Auf den allerersten Kuss
Frisch gewagt und keine Bange
Zieht daraus den weisen Schluss

Und so ist´s auch mit der Ehe
Früh gefreit hat nie gereut
Ist der richt´ge in der Nähe
Habt den Mut und seid gescheit
Denn wer allzu lange wartet
Der verpasst die schönste Zeit
Wer nicht früh genug gestartet
Dem tust später sicher leid

Wie mit Liebe und mit Küssen
Ist´st auch mit der Politik
Vor der Wahl muss jeder wissen
Wem er diesmal gönnt das Glück
Und da alles Alte
Heute abgetakelt und passé
Drum probieren kluge Leute
Dieses Mal die SPD

Refrain - Marsch
Einmal muss man es probieren
Einmal steht man vor der Wahl
Einmal muss man es riskieren
Es gelingt ein für alle Mal
Einmal muss man es probieren
Keine Angst es wird schon gehen
Einmal muss es ja passieren
Nachher ist es noch mal so schön!

Dann war er plötzlich da. Umjubelt, gefeiert, sehr häufig unterbrochen von Beifall: Willy Brandt, die große Hoffnung für die Sozialdemokratie nach dem zweiten Weltkrieg, endlich wieder an die Regierung zu gelangen. An den Inhalt der Rede erinnere ich mich nicht mehr. Das Ergebnis dieses Wahlkampfes jedoch, erbrachte zunächst wieder die Möglichkeit der Bildung einer CDU/FDP-Koalition unter der Führung des Adenauer-Nachfolgers Ludwig Erhard. Diese brach jedoch im darauf folgenden Jahre zusammen.

In die Große Koalition, die unter dem Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger 1966 gebildet wurde, trat Willy Brandt als Außenminister ein und löste diesen als Kanzler nach der Wahl 1969 ab. Als Kanzler trat Brandt nach der Guillaume-Affaire zurück, vorallem, weil sich sein langjähriger Berater als DDR-Spion entpuppte. Brandt war zudem zwischen 1976 und 1992 Vorsitzender der sozialistischen Internationale. Er starb im Oktober 1992.

Diese Begegnung mit Willy Brandt im Jahre 1965, begründete meine emotionelle Bindung an die „Arbeiterbewegung“, mit der ich mich nahezu 3 ½ Jahrzehnte verbunden fühlen sollte. Solche Bande entstehen ganz plötzlich; der Widererkennungswert eines Menschen, an seine Partei, an bestimmte Aussagen, unterscheidet sich von ferneren Bezügen und lässt Vertrautheit entstehen, die sich in einer festen politischen Bindung niederschlägt. Dennoch sollte ich nur einmal bei einer Bundestagswahl die SPD wählen.

Aber der beginnende Aufbruch, der zur Regierungsbeteiligung der SPD führen und so manches in der Republik verändern sollte, ist untrennbar mit dem Namen Willy Brandt verknüpft. Nötig scheint es jedoch im Nachhinein, manches was in dieser Zeit geschah, neu zu interpretieren. Zu vieles ging daneben. Viel zu vieles.


Der Stadtteil Anfang der 60er, aus dem Band „Eilpe/Delstern/Selbecke“
oder
Ihr, die Kumpanen aus demselben Viertel voller Ruß,
aus gleichen grauen Reihenhäusern und aus gleichem Guß,
mit gleicher Gier nach hellen Häusern, Rasen, Chrom und Kies,
nach schlanken Frauen, Kachelbad - Kumpanen, die ihr dies
fast alle heute habt und nur noch ungern rückwärts seht -,
wenn ihr euch trefft, per Zufall, irgendwo zusammensteht,
von neuen Dingen sprecht und über alte Witze lacht,
und einer von euch fragt:
“Wer weiß, was Horsti Schmandhoff macht?”
Kumpanen, dann, dann fällt euch ein:
Ihr wolltet mal genau wie Horsti Schmandhoff sein.

Franz Josef Degenhardt, 1966

7 Kommentare »

  1. Willy Brandts Sohn, Prof. Dr. Peter Brandt, schickte mir heute einen hübschen und von ihm heraus gegebenen Band zur Hagener Geschichte, und teilte mir mit, er habe den obigen Beitrag “mit großem Interesse und Vergnügen” gelesen. Das (er)freut mich. TK

    Kommentar von Campo-News — 16. Dezember 2006 @ 12:41

  2. Nun habe ich noch ein Buch von Peter Brandt erhalten und möchte dies - verbunden mit einer Kaufempfehlung - vorstellen. Der unten zu lesende Preis ist wohl noch in DM ausgezeichnet.

    Kommentar von Campo-News — 28. Dezember 2006 @ 13:35

  3. Hallo Tanja,

    vielleicht war und ist die SPD des Bad Godesberger Programms,
    die sich zur Marktwirtschaft und gegen die Planwirtschaft stellte,
    die effektivste politische Vertretung für Arbeiter- und Angestellteninteressen.

    Ihr u.a. auch auf Bernstein zurückgehendes “Revisionistisches” Programm
    (wie es die Bolsheviken und Maximalmarxisten nannten und nicht mit “Geschichtsreformismus” verwechselt werden darf),
    das der Reform den Vorzug vor der Revolution gab, entspricht eben gerade aus “Materialistischer Sicht” der Wirklichkeit mehr als der
    - nie wirklich vom Kopf auf die Füsse gestellte -
    hegelsche dialektische Idealismus.

    Zur Nation:

    Obwohl sich Frankreichs Name von einem Volksstamm herleitet, verstand es sich immer als “Sprachnation”, während Deutschland, dessen Name sich von Theo-Discus (Volks-Sprache)ableitet und sich auf die gemeinsame Sprache bezieht, sich immer als Blut- und Volksnation verstanden hat.

    Darum ist es für einen fanzösischen Linken kein Problem “Vive la France” zu sagen, für einen deutschen Linken aber tatsächlich problematisch “Es lebe Deutschland” zu deklamieren.

    Wir Deutschen glauben doch heute noch an unser “Germanischsein” obwohl das nun mal nicht stimmt.
    Wir reden mit Deutsch zwar eine “Germanische Sprache” sind aber tatsächlich um es mit Stoiber zu sagen: Eine “Durchrasste Gesellschaft” und das schon seit Jahrhunderten und mehr.
    Verstünden wir uns also auch als Sprachnation und nicht als “Blutgruppe”, könnte auch ein “Es lebe Deutschland” möglich werden, obwohl mir sowas wahrscheinlich nur bei Sportveranstaltungen über die Lippen ginge.
    (Im Skisport bin ich übrigens radikaler Schweizer, LoL.)

    Erik

    Kommentar von Erik — 28. Dezember 2006 @ 16:04

  4. Hallo Erik!

    Naja, die Abstammung spielt wohl immer eine “gewisse” Rolle - sie sollte eine “angemessene” annehmen. Ich habe das einst auch verkrampft gesehen, empfinde es heutzutage lockerer.

    Hier einmal eine Rezension des Brandt-Buches

    TK

    Kommentar von Campo-News — 28. Dezember 2006 @ 17:16

  5. Hallo Tanja,

    als Fussball-Fan bin ich natürlich auch ein deutscher Chauvi.

    Aber auch wenn ich an der Schweiz viel zu kritisieren habe, aber die Tatsache in einem echten Bundesstaat und nicht in einem Nationalstaat zu leben hat ne sehr angenehme Seite.
    Hier hängen Schweizerfahnen sehr selbstverständlich an Berghütten und Seeschiffen, genauso wie Kantonsflaggen, aber als Angehöriger einer Nation sehen sich hier die wenigsten.

    Meine Herkunft ist für mich eine familiäre Sache, da meine Mutter Dänin ist, meine Neffen wiederum sind schweizerisch-dänisch-deutscher Herkunft und fühlen sich da hier geboren und mit Schweizer Pass “gerüsstet” als Schweizer.
    Den Begriff Nation verwenden aber auch sie nur im Zusammenhang mit der “Olympischen Religion”, dem Sport.

    Erik

    Kommentar von Erik — 28. Dezember 2006 @ 18:52

  6. Peter Brandt erzählt im FOCUS-Interview, dass sein Vater bei einem seiner letzten Besuche gerade noch habe aufstehen können.

    Peter Brandt im FOCUS-Interview: Sohn spricht offen über Beziehung zu Papa Brandt - weiter lesen auf FOCUS Online: http://www.focus.de/politik/deutschland/sohn-peter-ueber-seinen-vater-willy-brandt-zum-abschied-ein-letztes-mal-gewunken_aid_751694.html

    Kommentar von Campo-News — 12. Mai 2012 @ 12:46

  7. http://www.wochenkurier.de/archiv/2014/09/29/martin-schlegel-verlaesst-hagens-spd/

    Kommentar von Campo-News — 15. Mai 2015 @ 06:48

RSS-Feed für Kommentare zu diesem Beitrag. TrackBack-URL

Einen Kommentar hinterlassen

You must be logged in to post a comment.

kostenloser Counter

Weblog counter