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28. Juli 2005

“Interessen - und Wertegemeinschaft” EU

Abgelegt unter: Allgemein — Campo-News @ 07:01

Daniel L. Schikora ist auf einen interessanten Artikel von Michael Wolffsohn gestoßen.

In erfrischender Schärfe brandmarkte der Münchener Historiker Prof. Michael Wolffsohn in Gestalt einer Rezension von Sandra Kalnietes “Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee” die geschichtspolitischen Prämissen der politischen Elite des NATO-Frontstaates und EU-Neumitglieds Lettland.

Nachdem Wolffsohn den Terror der sowjetischen Okkupationsmacht, dem Zehntausende von Letten im Archipel Gulag - unter ihnen Familienangehörige Kalnietes - zum Opfer fielen, und den Molotow-Ribbentrop-Pakt, der die baltischen Republiken dem Zugriff Stalins ausgeliefert hatte, thematisiert hat, widmet er sich dem geschichtspolitischen Kontext der literarischen Aufarbeitung der Familiengeschichte der früheren lettischen Außenministerin und späteren EU-Kommissarin wie der Nationalgeschichte ihres Landes.

“Die Leidensgeschichte der Familie Kalniete ist Mikrokosmos des lettischen Makrokosmos. Jeder halbwegs einfühlsame Mensch leidet mit dieser Familie und diesem Volk. Das ist die eine Seite.

Die andere: die geradezu unerträgliche, beinahe provokative oder unbelehrbare Schönfärberei lettischer Kollaboration mit der deutschen Besatzung beim Holocaust. Gewiß, Kalniete erwähnt, daß die Deutschen 1941 in Lettland als ‘Befreier’ bejubelt wurden. Doch dann dies: ‘Nach dem Krieg machte sich die sowjetische Propaganda diesen Umstand ausgiebig zunutze, um ihre westlichen Verbündeten von der ,faschistischen und antisemitischen Einstellung des lettischen Volkes’ zu überzeugen. Die Bilder vom Einmarsch der Deutschen in Riga sind bis heute immer wieder in westeuropäischen Fernsehsendungen zu sehen, aber die Kommentatoren pflegen den Grund für die damalige Haltung der Letten zu vergessen - oder sie kennen ihn einfach nicht. Sie erklären den Zuschauern und Zuhörern nicht, was während des ersten Jahres der sowjetischen Okkupation in Lettland geschehen war.’

Bis wann ‘nach dem Krieg’ war der Westen noch mit der Sowjetunion verbündet? Und wer sind ‘die’ Kommentatoren? Und existiert als Quelle historischer Informationen nur das Fernsehen? Gibt es ‘das’ Fernsehen? Kommt Kalniete nicht auf den Gedanken, daß jene Kommentare und Bilder vielleicht doch die ihr nicht genehmen historischen Fakten wiedergeben? Ich zitiere ‘den’ Holocaust-Forscher Raoul Hilberg: ‘In den ersten Wochen deutscher Besatzung ergriffen baltische Freiwillige die Initiative und gingen so brutal gegen Juden und mutmaßliche Kommunisten vor, daß der Befehlshaber für das rückwärtige Heeresgebiet der Heeresgruppe Nord sie anwies, ihre ausufernden, eigenmächtigen Verhaftungen und Erschießungen sofort einzustellen. Von nun an, befahl er, mußten sie sich auf Einsätze beschränken, die deutsche Offiziere genehmigt hatten, oder brauchten Haftbefehle der einheimischen Justiz.’ Kalniete sieht das anders. Bei ihr führt die Spur zu den Sowjets: ‘Das KGB produzierte eine Reihe von Veröffentlichungen, die erstaunlicherweise zu ,Quellen’ zahlreicher Holocaust-Forscher avancierten.’ Keine Rede, davon, daß Antisemitismus lange vor der deutschen Besatzung in Lettland, wie in den beiden anderen baltischen Staaten, breit und tief in der Gesellschaft verwurzelt war.

Angriff ist auch für Kalniete die beste Verteidigung: ‘Ich weise das Bestreben zurück, mir und anderen anständigen Einwohnern Lettlands die ,angeborene Schuld’ aufzubürden, weil nach dem Einmarsch der Deutschen in Riga eine Gruppe willfähriger Abenteurer unter der Führung Viktor Arajs eine Brigade bildete, zu deren Hauptaufgabe die Erschießung von Juden, Kommunisten und Zigeunern wurde.’ Wer bürdet Kalniete Schuld auf?

Viel überzeugender mindert Raoul Hilberg die kollektive Verantwortung (nicht Schuld, denn Schuld ist immer nur individuell) ‘der’ Letten für jene ihrer Landsleute, die kollaborierten: ‘Aus den baltischen Freiwilligen waren Instrumente geworden… Auch in Lettland machte sich Unbehagen breit’, denn man ahnte: ‘nach der ,Hinrichtung’ der Juden drohe vielen Letten der ,gleiche Weg’, speziell wenn sie für deutsche Behörden gearbeitet hätten.’

‘Voll und ganz auf den Staatsmännern des Dritten Reiches’ laste die Verantwortung auch für das Judenmorden in Lettland, schreibt Kalniete. Richtig. Doch unvergessen Paul Celan über den Holocaust: ‘Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.’ Der Meister hatte viele Gesellen. Kalniete kennt und nennt nur den ‘Meister’. Selbstkritik der Gesellen? Fehlanzeige. Europareif trotz EU-Mitgliedschaft?”

Welt-Artikel

Tatsächlich sind nicht nur die politischen Verlautbarungen Sandra Kalnietes, sondern auch die Stellungnahmen der amtierenden Staatspräsidentin Lettlands, Vaira Vike-Freiberga, zum 60. Jahrestag der Niederlage Hitler-Deutschlands, die aus lettischer Sicht als bedauernswert erscheine, geeignet, meine folgenden Bemerkungen zu der “Heimsuchung des ‘neuen Europa’” vom April 2004 zu bestätigen: “Der ‘klassische’ Antisemitismus, der das Gedenken der Opfer der Shoah eo ipso als Parteinahme für den (jüdischen) Bolschewismus deutet, droht flankiert zu werden durch einen sentimentalen Multikulturalismus der ‘alteuropäischen’ Linken, in deren Augen nicht in erster Linie den durch den Pogrom-Feldzug der Hamas und der Fatah bedrohten Bürgern Israels Solidarität zusteht, sondern vielmehr ‘unterdrückten Völkern’, die dem islamischen ‘Haus des Friedens’ zugerechnet werden - darunter das ‘palästinensische Volk’ und dessen südosteuropäisches Äquivalent, dessen ethnonationalistischer Homogenitätswahn in der terroristischen Durchsetzung einer ‘judenfreien’ europäischen Region resultierte: Kosmet.”

4 Kommentare »

  1. Nur: In welcher Form kann dort die Wut über die andere, die zweite Diktatur, die sowjetische heraus, ohne dass das Leid der jüdischen Bevölkerung in irgendeiner Weise verharmlost wird? Was macht der Bürger Lettlands, der mit den Nazis nichts im Sinn hatte, aber unter der Sowjetdiktatur litt? Ich weiß es nicht.

    TK

    Kommentar von Campo-News — 28. Juli 2005 @ 14:19

  2. “Was macht der Bürger Lettlands, der mit den Nazis nichts im Sinn hatte, aber unter der Sowjetdiktatur litt?”

    Er wird mit Michael Wolffsohn, Salomon Korn und mir darin übereinstimmen, daß die Manier der lettischen Offiziellen, sowjetische und nationalsozialistische Gewaltverbrechen umstandslos in eins zu setzen und darüber hinausgehend sogar den Sieg der UdSSR und ihrer Verbündeten über Nazi-Deutschland für bedauerlich zu erklären, den moralischen Werten einer EU, die sich der Universalität der Menschen- und Bürgerrechte verpflichtet sieht, Hohn spricht. Er wird die nichtnationalsozialistischen Opfer des Stalinismus - unter ihnen jüdische und nicht-jüdische NS-Verfolgte! - vor einer Instrumentalisierung ihres Martyriums zum Zwecke einer Bagatellisierung der verachtenswerten lettischen Hitler-Kollaboration in Schutz nehmen. Für eine “Wut” der vermeintlich “anständigen” Einwohner Lettlands, für die Sandra Kalniete spricht, im Sinne eines “perversen Antikommunismus” (Ralph Giordano), in dessen Logik die Beteiligung am Judenmord als “antibolschewistische” Defensivakte erscheint, ist in einem freien Europa der Nationalstaaten kein Platz: Frankreich, Belgien, die Niederlande, Dänemark, Großbritannien, Italien, die Tschechische Republik und Griechenland, in deren kollektivem Gedächtnis der Beitrag der Sowjetunion sowie der nationalen kommunistischen Parteien an der militärischen Zerschlagung des rasseimperialistischen Hitler-Deutschland fest verankert ist, werden sich seitens Lettlands oder Litauens gewiß keine geschichtspolitischen “Maulkörbe” (etwa im Sinne eines Verbots der öffentlichen Präsentation der Staatsflagge einer der führenden alliierten Mächte) verpassen lassen - ebenso wenig wie Rußland, Serbien oder Israel.

    Kommentar von Digenis Akritas — 28. Juli 2005 @ 14:57

  3. Wir haben in unserem Lettland-Blog einige Reaktionen zu diesem Artikel gesammelt, ich hoffe sie helfen, dass diese Diskussion über die Balten endlich vorankommt.

    http://lettland.blogspot.com/2005/04/zum-beitrag-keine-gesellen-nirgends-in.html

    Kommentar von Jens-Olaf — 1. September 2005 @ 16:57

  4. Eines möchte ich noch hinzufügen: Wir sind dabei, andere Nationen der Mitschuld am Holocaust zu bezichtigen. Das setzt voraus, dass wir über unseren eigenen Anteil daran genau im Bilde sind. Das ist aber nicht der Fall. Aus meiner Heimatstadt waren Politiker, Vollstrecker (?) im Baltikum am Werk, deren Handeln wir nicht mehr nachvollziehen können. Sie wurden entweder gedeckt oder konnten erfolgreich ihre Verantwortung verschleiern. Jetzt die Hauptschuldfrage den Letten zuzuschieben finde ich, ähem, dreist. Dafür sind die Wissenslücken auf unserer Seite ganz schön groß. Siehe auch Kommentare zu Sandra Kalniete im Lettland-Blog.

    Kommentar von Jens-Olaf — 1. September 2005 @ 17:16

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