ABSCHIEDE
Jetzt kann er nicht mehr schreien. Sie haben ihm die Luftzufuhr erleichtert. Per Kehlkopfschnitt. Das wächst problemlos wieder zusammen, sagen sie, ohne weitere Operation, wenn es soweit ist.
Es ist nicht soweit. Beinahe wäre ich heute an seinem Bett vorbeigegangen. Das ist Ihr Vater, sagten sie. Was ist noch ähnlich. Nicht mal die Frisur. Sie haben ihm die Haare geschnitten. Er ist sauber rasiert. Durch den Schlauch, der ihm jetzt Atem gibt, ist das Röcheln zu hören. Er kann nicht mehr schreien.
Entschuldigung, würden Sie bitte einen Moment draußen warten? Vielleicht spülen sie jetzt die Schläuche, stellen die Monitore neu ein. Die Werte, die nichts als den lapidaren Satz folgen lassen: den Umständen entsprechend. Das konnte ich selbst sehn. Eine Komplikation, hatten sie am Telefon gesagt, wir mussten ihn auf die Intensivstation verlegen. Vor einer Woche. Ja, ist stabil.
Er atmet wirklich ruhiger. Wie geht es dir heute. Die Floskeln, die uns halten. Ach, sagt er, meine ich zu hören, beschissen, als Antwort, wie stets in letzter Zeit. Aber man versteht ihn nicht mehr. Wenn die Blutung zum Stillstand kommt, sagt der behandelnde Arzt, andere dürfen keine Auskunft geben. Und wenn nicht. Davon gehen wir erst mal nicht aus. Und fügt doch hinzu: Dann sind dem Operateur die Hände gebunden.
Nicht mehr schreien. In der Wohnung. Die Mutter versteht sonst nicht, entschuldigte er sich. Mutter, die sich in ihre Schwerhörigkeit flüchtete. Die mir manchmal nur sagte: Die Nachbarn haben wieder geklingelt, weil er so laut war. Was soll ich denn noch machen? Nicht mehr schreien. Seine eigene Hilflosigkeit immer anderen aufgedrängt. Ja, komplexe Schädigung. Sein aufgedunsenes Gesicht nun. Welches ist das wahre.
Das Summen der Monitore. Sein Atem ist das lauteste Geräusch im Raum. Austauschbare Tage. Nicht mehr die Wochenenden: der Lärmpegel erreichte seinen Höhepunkt. Aber wehe, wenn nachmittags während seines Schlafes eine Tür zu laut ins Schloss fiel.
Was soll werden, fragt Mutter. Wir kriegen das schon hin, sage ich, die Schwestern vom Pflegedienst sind doch nett.
Nicht mehr lange, und Mutter wird sagen, wir hatten doch auch schöne Stunden. Und keiner wird widersprechen. Und niemand wird schreien.
Sie schicken mich heute nicht weg. Ich könne bleiben, solange ich wolle. Ich darf außerhalb der Besuchszeiten kommen. Versteht er mich denn noch? Wir wissen es nicht, sagt der Arzt, aber kommen Sie nur, reden Sie mit ihm.
Wo wir solange sprachlos waren zwischen Schweigen und Schreien. Herbeireden, was so lange ausgeschlagen wurde: eine Chance.
Bis hierher.
Und weiter.
Aus “Zwielichtâ€, Holger Uske, Verlag: Die Scheune, Dresden ISBN 3-931684-85-7
Der Autor wurde 1955 in Riesa/Elbe geboren, lebt seit 1959 in Suhl und gab bereits mehrere Bücher und CDs heraus.