Assmann und das Hörnchen
Als er aber am Bahnhof jenes bunten Kiosk mit der großen Tafel vorbei kam, auf der „Lecker Schlecker Lecker Eis“ stand, kam er doch in Fahrt. Zumindest für seine Verhältnisse. Ein zartes Lächeln. Gespannte Erwartung. Nach seiner Geldbörse umständlich fingernd, die wieder viel zu tief in der weiten und überdehnten Tasche mit dem großen beigen Tuch darin verschwunden war, den Kopf ab und zu wegdrehend um sich besser auf das Objekt seiner Begierde konzentrieren zu können, ab und an ein leises gepresstes „äh“ von sich gebend, hier und dort auf ein Klingeln zusammenstoßenden Geldes zu horchen, sah er aus, wie ein Crahtestdummy, den man irgendwo abgestellt hatte.
Nach langer Suche erreichte Assmann was er wollte, reihte sich in die kurze Schlange vor dem Kiosk ein und stand, schneller als erwartet, vor dem Verkäufer. In Eisfragen völlig unkundig, lachte er verlegen, den schweren Körper dabei schüttelnd, als der Mann ihn ansah. Wohl würde er einen seiner Schüler in einer ähnlichen Situation für einen orientierungslosen Dummkopf gehalten und irgendeine launige Bemerkung in seine Richtung abgegeben haben, doch jetzt konnte er sich nicht produzieren. Jedem anderen wäre die Angelegenheit angesichts der länger werdenden, potenziellen Käufer, peinlich gewesen, doch er dachte, es sei halt der Fehler der Werbung, wenn einer wie er, Assmann, der erfahrene Pädagoge, nicht auf Anhieb zwischen den einzelnen Sorten, die sich doch seit seiner Kindheit immer wieder veränderten, unterscheiden könne.
Die Eistafel hinauf und herunter jene einzelnen Abbildungen ansehend, die neben den bisweilen grellbunten und farblich abwechselnden Sorten abgedruckt und für ihn gar nicht systematisch erkennbar geordnet waren, fiel ihm die Entscheidung, welches der Angebote er nun auswählen sollte, sichtlich schwer. Er war kurz davor, schon aufzugeben, sich umzudrehen, umzukehren und den Plan des Eiskaufes fallen zu lassen, da fiel sein Blick auf ein gelbes Zitronenhörnchen mit gefalzt erscheinender, milchiger Aufzäumung und einem goldfarbenen Papier, dessen Oberfläche matt schimmerte.
„Dies hier“. Er zeigte auf das Eishörnchen, dessen Namen auszusprechen ihm peinlich war. „Welches meinen Sie genau, ich kann es von hier aus nicht sehen“, fragte ihn der Verkäufer mit einem Blick ansehend, der eine Verachtung für die ungelenke Kreatur da vor sich, nicht verbergen konnte. „Das“, noch einmal deutete er auf die Schautafel, hoffend, der Mann gegenüber würde nun wissen, was er, Assmann, wolle, denn er genierte sich weiter aus einem Menü zu zitieren, in dem die Angebote „Brauner Bär”, “Mr. Long” oder “Flutsch-Finger” hießen, tippte, angesichts des ausdruckslosen Gesichtes des Verkäufers jetzt grober und energischer werdend, auf das Bild: „DIES!“ „Ach so“, erwiderte der Eismann. „Macht 1,20.“
Assmann nahm das Eis aus der Hand des Kioskbesitzers, eine Hand freimachend in dem er das Eis zwischen die Zähne an einem Streifen überstehenden Papiers klemmte (was sofort einen durchdringenden Schmerz in seinen Vorderzähne auslöste), nestelte das Wechselgeld in die Geldbörse, steckte dies wieder weit in die Hosentasche, nahm das Eis in die linke Hand und zupfte nun an verschiedensten Ecken des Papiers, um es schließlich oben ein wenig aufzureißen. Die Hitze und die doch recht lange Zeitspanne, die er zur Freilegung eines ersten Stückes des recht widerspenstigen Hörnchens benötigte, hatten zur Folge, dass jenes Papier sich zwar leicht vom Gesamtprodukt löste, aber nicht, ohne doch einen erheblichen Teil der quasi zu Softeis zerfließenden Substanz mit sich zu ziehen, und so dafür sorgte, dass er es zwischen seinen Fingern klebend spürte.
Eine Unendlichkeit später, da er nach seinem beigen großen Taschentuch gesucht, die schleimig-klebende Soße entfernt, auf einer nahegelegenen Bank, von seinen Schülern kichernd umringt, zu sitzen kam, leckte er mit seiner Zunge genüsslich das, was vom Eis übrig war ab, und zwar so, dass jedes Mal, wenn er die Zunge wieder (natürlich damit über die Lippen fahrend) einzog und die Geschmackspapillen den kurzen Moment des Süßen an sein Hirn weitergaben, eine weiße Flüssigkeit vom Esspapier-Tütchen, direkt in seinen schwarzen Bart, tropfte.
Für einen Moment bei sich und mit sich gewesen, innerlich schnurrend wie ein Kater in der Sonne, verdrehte er nun unkoordiniert seine linke Hand und griff in seinen Bart. Auch wenn sich in diesem Moment Mehmet, der von Rico ob einer kleinen Rangelei, deren Grund sich auch im Nachhinein nicht herausfinden ließ, geschubst, nur kurz an Assmanns Schulter abstützte, verlor dieser für einen Augenblick seinen Halt , während er selbigen suchte, sich dabei nicht für die Umklammerung des Eishörnchens entschied, und es so unrettbar an die Schwerkraft verlor.
Assmann aß nie wieder Eishörnchen. Besonders nicht an heißen Tagen. Insbesondere nicht im Beisein seiner Schüler. Er hatte an diesem Tag überhaupt endgültig das Interesse an Ausflügen verloren. Und sein Bart widerte ihn an. Das aber verdrängte er. Vielmehr sagte er sich, wenn jemand nach Tafeln späht, auf denen „Brauner Bär”, “Mr. Long” oder “Flutsch-Finger” steht, sei er selber schuld. Höhere Gewalt, sozusagen. Mit diesem Gedanken tröstete er sich in den Schlaf. Er, Assmann, der so trefflich die Aufgabenstellung beherrschte, seinen Schülern zu erklären, wie die Photosynthese funktioniere, um aber beim Eisessen, dem profanen, zu scheitern.
http://www.huffingtonpost.de/2015/10/28/manner-bart-wahrheit_n_8405582.html?utm_hp_ref=germany
Kommentar von Campo-News — 28. Oktober 2015 @ 13:24