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9. Juni 2007

Placebo oder Selbst Anna Blume kriegt keinen grünen Vogel nicht

Abgelegt unter: Allgemein — Campo-News @ 10:35

Über den Trend zum Realitätsverlust

Von Tanja Krienen

Wir haben ja hier auf dem CAMPO schon zwei Mal Mittelchen angeboten, die besser wirken als alle bekannten, zum einen Dr. Deislers Katzenkacke und zum anderen das beliebte bayrische Allheilmittel SÖDEX. Gehen wir noch einmal vom Allgemeinen ins Besondere.

Karl Kraus sprach von dem Beginn der Abklärung, als die Nazis die Macht ergriffen, ein Begriff, der nicht ganz treffend den Gegensatz zur Aufklärung beschreibt, der mit „Entklärung“ bzw. „Verschleierung“ wohl besser umschrieben wäre. Dass für postmoderne Empfinder Dialektik etwas aus der vorfaschistischen Stube der Grübler ist, macht die aktuelle Situation nicht leichter.

„Hauptsache, es hilft“ und „Man muss nur fest dran glauben“ lauten die beiden Sätze, an denen die Vernunft verstummt und stumm versumpft. Jenes Credo „Der Glaube kann Berge versetzen“, mahnt den Ungläubigen, zu wissen sei Bronze, aber Glauben Silber, doch der Aberglauben Gold, und dieser könne, allzumal, oder grad weil er „transzendent“ sei, alles, nur sich nicht nach den Spielregeln „unseres begrenzten irdischen Wissens“ - von dem ausgerechnet jene gar nicht vermuten dass es das überhaupt gibt – messen lassen.

Da die Krankenkassen ihren Anspruch an nachweislich funktionierenden Heilmethoden mindern, da es also überall piekst, strahlt und Zustände des reinen Nichts gebiert, wächst gleichermaßen das Risiko für den uneinbildeten Kranken, mit jenem Abergläubischen verwechselt und ein todbringendes Placebo verabreicht zu bekommen, welches versagt, weil Sprache längst von Bildern, Diagnostik von subjektiven Befindlichkeitsbeschreibungen und deren sublimierten Surrogaten, abgelöst wurden. Ganzheitlich heißt es, wenn das Bauchgefühl ausdrückt, was im Köpferl ungut rumort.

Division von Frauen glauben an die „Kraft der heilenden Steine“. Amethyste, Smaragde und Achate versprechen gute Schwingungen. Schlagen sie sich auch noch so viel Torten und Liköre in den Leib, Edelsteine schützen sie gegen jegliche Beschwerden. Es gibt sogar einen für Schwangerschaft. Ob er davor schützen oder dazu verhelfen soll, ist nicht sorecht klar, woran aber jene Dame leidet, die mit zittrigen Fingern zum funkelnden Objekt dessen Wirkung mit „Trunksucht“ beschrieben wird leidet, ist schon klar, aber ob es verstärkt oder schwächt, und vor allem wie, bleibt so offen, wie die Flaschen der Frau auch zukünftig nicht geschlossen bleiben – jedenfalls nicht durch die Hilfe der edle Steine.

Schamanenriten, Hopi-Indianer-Zeichen, Dalei-Lama-Esoterik – Signale und Beschwörungsformeln dominieren. Trommeln vertreiben böse Geister, sind das Pfeifen im Walde vor der Gefahr lauernder Fakten. Die Fakten sind böse, sie dringen ein, stellen ein Bein, sind geschwind, wie der Wind, matern das Hirn und lassen erschaudern. Wer will das schon? Ein Zeichen hier, ein Ritualchen dort – Placebos gegen die Lümmelei, der Weltgetümmelei.

Erkenntnisprozesse sind verpönt, es wird dialogisiert. Das muss reichen. Man fasst sich an strohalmerheischende Hand, so kann man besser stehn, wenngleich nicht gehn. Seelen schwingen im selben Takt, der Geist bleibt nackt. Das Antlitz leuchtet, die Ohren glühn, die Hirnhälften quietschen und eiern. „Wir wollen wir die Kinder sein“ – man sieht es den Manifesten an. Der Philosoph steht vor der Tür und denkt, sie ist verschlossen. Den praktischen Versuch unternimmt er nicht. So bleibt die Klinke, der geöffneten, ungedrückt.

Maximal zählt der Versuch, meist nicht einmal der. Die Haltung ist es. Die Absicht. Besser: Die Absichtserklärung. Nachdem wir nichts mehr sollen, wollen wir nicht mehr. Bekommen auch nichts. Selbst Anna Blume kriegt keinen grünen Vogel nicht.

Schallplatten lösen sich auf. Klangstrukturen, drahtlos gespeicherte Monster. Rhythmusersatz für Reaktive. Die Aktiven werden beruhigt. Man spricht jetzt mit Händen in den Taschen.

Gott lebt. Auch Jesus. Selbst der Neandertaler wandert. Erst gestern sah ich einen in der Buslinie 555, zwischen Frankenstein und Rotenburg.

„Lebe deinen Traum“. Nie war man ehrlicher. Die Vision ist das Leben, das Leben selbst abgeschafft. Real wird surreal – und umgekehrt. Man lässt um so mehr kochen, je weniger man zurück kocht.

Wir haben erkannt, dass das X, welches man uns vormachte, wirklich ein U ist. Nun sind wir ratlos. Tatlos.

Ich will mein Placebo.

7 Kommentare »

  1. Schöner Text, und der auch:

    Situationisten in Basel

    Der Bär flattert schwach in südwestlicher Richtung.

    Von einer Reise zur Ausstellung ›Die Situationistische Internationale 1957 bis 1972‹ im Tinguely-Museum in Basel schickte unser Freund Günther Gerstenberg den folgenden Bericht:

    Der ältere Mann, der seit der Abfahrt vom Starnberger Bahnhof mir gegenüber sitzt, fühlt sich nicht wohl, ist beunruhigt. „Können Sie mir sagen, ob ich irgendwann umsteigen muss?“
    Ich verneine. Enttäuscht lässt er sich in seinen Sitz zurückfallen. „Nicht einmal mehr Schaffner gibt es, die die Fahrkarten knipsen und die man fragen könnte.“ Er murmelt, dass der Apparat alles erdrücke.
    „Der Apparat,“ frage ich. Er meint, „System“ sei ideologisch aufgeladen, spätestens seit der Nazi-Zeit, der Begriff „strukturelle Gewalt“ erläutere die Funktion, beschreibe aber nicht den Charakter.
    Dann erzählt er, dass er einmal ein tiefgläubiger Katholik war, erzogen im Glauben und in der Demut. Heute sei ihm Religion völlig egal, die institutionalisierten Formen sowieso, aber sogar der reine Glaube sei ihm ganz und gar abhanden gekommen, sein Gewissen, das auf agnostischer Grundlage ruhe, habe er dafür aktiviert, aber, ja mei, der Mensch brauche halt Rituale.
    „Damit schließen Sie mich aus der Gattung der Menschen aus.“
    Er sieht mich etwas erschrocken an und korrigiert sich:
    „Ich meine nicht das Individuum, aber Gruppen und Gesellschaften benötigen Rituale für die notwendig immer wieder zu erneuernde Selbstvergewisserung.“ Und die sei deshalb nötig, weil „der Apparat“ den Menschen seines eigenen Ichs beraube. Seine zweite Natur, die des Funktionierens, werde Schritt für Schritt zu seiner ersten Natur.
    „Kann es sein, dass ich Sie richtig verstehe? Dem Individuum bleibt nicht übrig, als sein Karrieremuster mit allen nötigen Choreographien des Denkens, Handelns und Fühlens so auszubilden und kontinuierlich neu auszutarieren, damit er in der Konkurrenz besteht, weil er sich ja reproduzieren muss.“
    „Klar,“ meint er, „und wer sich dem verweigert, der kommt unter die Räder, den spuckt der Apparat aus wie einen nutzlosen Kirschkern. Glauben Sie etwa, der Kapitalismus ist für die Menschen da?“
    „Ja, und was bleibt jetzt? Wer kann was tun?“

    Das alles steht im überaus lesenswerten “Schröder und Kalender Blog” in der ansonsten nicht so lesenswerten taz.

    Wer es ganz lesen will, bitte:

    http://taz.de/blogs/schroederkalender/2007/06/06/situationisten-in-basel/

    Kommentar von hegelxx — 9. Juni 2007 @ 20:25

  2. Danke! Ich schließe mich dem an: der Text ist gut, ich meine: meiner! Allerdings ist er etwas uneinheitlich, man könnte auch sagen: er entwickelt sich. Sollte es zunächst eine ernsthaftere, natürlich trotzdem essaygemäße Analyse sein, rutschte ich plötzlich - ich weiß nicht wie mir geschah - in einen dadaistischen Duktus. Man fragt sich manchmal, wo das herkommt. Ach, was könnte man dazu, selbsterhöhend, mit Nietzsche, noch alles sagen? Aber wie zwinkert man in Schriftform mit dem Auge?

    Dada und Artverwandtes, Stichwort Tinguely, den du ja ganz oben erwähntest. Es war - wie immer - kurz nach letzten Krieg, als ich - ach, ich stelle das eminent “wichtige Werk”, das Wichtigwerk, mal ein.

    tin.jpg

    Kommentar von Campo-News — 10. Juni 2007 @ 06:32

  3. Irgendwie ist der CAMPO-Blog den Spiegel-Titelthemen immer um ein paar Wochen voraus. Komisch. Woher das nur kommt? Jedenfalls war in der letzten Woche “Die Heilkraft der Einbildung” dran. Zwar meine ich, dass man prinzipiell mit einer handvoll Aspirin im Monat auskommen und sich tunlichst drei Mal überlegen sollte, ob man gewöhnliche Wehwehchen sogleich mit Pillen kuriert, aber die Gleichsetzung der homöopathischen und Placebo-Verabreichungen mit der wirklich seriösen Medizin, gehört in den von mir schon häufig kritisierten Bereich der Tendenz, die ich als “Esoterisierung der Wissenschaft” beschrieb, und die ja auch z.B. in der Psychologie, der Genetik und Biologie, wo Meinungen jene Fakten ersetzen, die dem Bauchgefühler das Recht des Dümmereen auf Ãœberlegenheit suggerieren, angewandt werden.

    Die Gleichzeitung von Mittelalter und Moderne, ein Kriterium für Faschismus, wie es Karl Kraus in der “Dritten Walpurgisnacht” beschrieb. So aber freut sich der Spiegel: “Das Fazit aus Deutschland passt zu den Erfahrungen, wie sie der Arzt und Medizinanthropologe Cecil Helman in anderen Teilen der Welt gesammelt hat. Er hat Schamanen in Südamerika und Afrika studiert, ein Lehrbuch zum Zusammenhang von Kultur und Gesundheit vorgelgt. Medizin ist in allen Kulturen ein Bühnenstück, hat Helman erkannt: `Die Praxis des Doktors, die Krankenstation, der heilige Schrein oder die Hütte des Naturheilers können wir mit dem Theater vergleichen, voll mit Kulissen, Requisiten, Kostümen und Drehbuch.`

    Alles wirkt gleich. Gut. Na wenn das so ist, haben wir noch weiteren Grund den afrikanischen Kontinent sich selbst zu überlassen. Ihre Gesundheit dort, ist ja schon jetzt beispielhaft, nicht wahr? Oh großer Schmanitu der du bist im Trommelholz der springenden Fellweste!

    Kommentar von Tanja Krienen — 3. Juli 2007 @ 08:05

  4. Nach 2 1/2 Monaten habe ich diesen Text einmal wieder gelesen, und finde ihn: unbeschreiblich einzigartig. Nirgendwo findet man selbiges. Dies gewiss, quäle ich mich, ungewiss, weiter zu machen.

    Kommentar von TK — 1. September 2007 @ 20:28

  5. Die Briten sind nicht immer die Besten! Ich liebe alles Britische!

    Kommentar von Campo-News — 2. Februar 2010 @ 09:00

  6. Vielleicht war es auch nur die Griechische Krankheit - http://www.spiegel.de/spiegelwissen/selbstheilungskraefte-gesund-durch-zuversicht-a-942818.html

    Kommentar von Campo-News — 12. Januar 2014 @ 14:20

  7. http://ef-magazin.de/2015/06/03/6975-moderne-akademiker-dekadenz-als-wissenschaft

    Kommentar von Campo-News — 4. Juni 2015 @ 16:52

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