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21. Dezember 2005

Der kürzeste Tag

Abgelegt unter: Allgemein — Campo-News @ 16:10

Von Tanja Krienen

Der kürzeste Tag

„Hola, Senora Tania“, sagte er mit seinem charmanten Lächeln, „bin gleich wieder da.“ Noch ehe ich freundlichst den Gruß erwidern konnte, verschwand er, kehrte aber umgehend zurück und brachte mir den obligatorischen Rosewein, der zu meinen stets mitgeführten Zeitungen gehört, wie die Sonne zu einem gelungenen Tag, nicht ohne sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Er wusste auch ohne Order was ich trank, aß und kannte auch meine übliche Gewohnheit, Passagen aus Zeitungen herauszureißen, falls mir die Meldung, ein Satz oder ein Gedanke darin wichtig erschien. „Kommt das wieder ins Archiv?“, fragte er manchmal spitzbübisch, und ich antwortete meist mit gespieltem Ernst: „Na klar, das ist sehr sehr wichtig für das weitere Weltgeschehen…!“

Im Laufe der Jahre wurde er mein absoluter Lieblingskellner, stets höflich, präzis und mit jenem Schuss Lebensphilosophie ausgestattet, die, so man ihr begegnet, bisweilen bei Kindern Staunen und bei Alten Ehrfurcht auslösen lässt, also summa summarum: eine Mischung altersloser, schlitzohriger Melancholie. Obwohl noch jung an Jahren – erst 28 – verbreitete er zudem eine Gelassenheit, welche wohl niemand zu erwerben vermag, sondern die eine naturgegebene sein musste. Diese Persönlichkeit schien mir sehr passend für das alte Casino zu sein, welches bereits im 19.Jahrhundert eingerichtet wurde und so manche Wirren und Irrungen der Zeit überstanden hatte. Mit seiner pompösen Ausstattung, den Leuchtern, Spiegeln und Gemälden, der detailverliebt gestaltenden Decke, stellt dieser Ort – ein großer Saal - ein verschwenderisch und pittoreskes Kleinod bewahrenswerter Schönheit dar, scheinbar unvergänglich. Sind Stil und Form heute wirklich nicht mehr mit Funktionellem in Einklang zu bringen, fragte ich mich manchmal angesichts dieses Gesamtbildes?

Jorge stammte aus der Extremadura. In der Jugend hatte er sich vorgestellt, wie er einmal erzählte, später Brücken und Häuser bauen zu wollen, ja, Architekt wäre er wohl gerne geworden. Als er jedoch sehr früh zum ersten Male Vater eines Jungen wurde und seine Jugendfreundin heiratete, da begrub er seine hochfliegenden Zukunftspläne und suchte sich Arbeit in der Landwirtschaft. Der Verdienst war gering, die Tätigkeit hart, die alltägliche Tretmühle deprimierend und die Perspektiven mäßig, sodass er sich nach einem Jahr entschloss, sein Glück an der boomenden Küste zu suchen. Ein entfernter Verwandter half ihm beim Start und so zog er mit seiner jungen Frau und dem kleinen Kind Anfang der 90er Jahre an die Costa Blanca. Schnell fand er eine neue Beschäftigung, diesmal im Gaststättengewerbe, das zweite Kind – wieder ein Junge – kam im Jahr darauf zur Welt und eine wirklich schicke kleine Wohnung vor der Stadt, stabilisierte die junge Familie in der Zeit rascher Entwicklungen und zeugte von einem gefestigten Leben in neuer Umgebung.

Vor einem Jahr war dann noch ein kleines Mädchen hinzugekommen. „Gottesgeschenke kommen oft überraschend“, sagte er einmal, „und er wird sich etwas dabei gedacht haben.“ Ich verkniff mir in solchen Momenten höflichst Bemerkungen, welche nach der Verantwortung der höheren Macht, für die weniger glücklichen Zufälle des Lebens fragen.

Fünf Jahre arbeitete er nun im alten Casino und genauso lange kannten wir uns schon. Ich konnte ihn mir nirgendwo so wirkungsvoll vorstellen, schien er doch mit der Arbeit untrennbar verbunden zu sein. Manchmal aber schlich sich das Gefühl ein, seine eigenen Interessen könnten unter den Anfordernissen Schaden nehmen. Jorges innerliche Größe schien sich oftmals auf die ausgeübte Funktion zu verkleinern; Arbeitszeitregelungen beachtete er nicht – kaum ein Tag, an dem er nicht im Einsatz für seinen Chef und seine Familie war.

In der Woche des Weihnachtsfestes, am kürzesten Tag des Jahres, wollte ich zum letzten Mal vor dem Jahreswechsel dort noch einmal etwas trinken und in aller Ruhe meine Zeitungen lesen. Es war draußen sehr ungemütlich, der Wind peitschte die Wellen heftig an den Strand, Papier flog durch die Straßen und niemand saß auf den Terrassen vor den Bistros und Restaurants. Der Himmel drohte mit Regengüssen und selbst die Palmen erschienen merkwürdig fremd, beinahe unwirklich.

Der seltene Tag bringt wohl außergewöhnliche Umstände mit sich, so dachte ich beim Eintreten in das Lokal, in dem heute die Wände dunkler als sonst, die Decke niedriger zu hängen schienen: mein Lieblingskellner war nicht da, ich musste meine Bestellung aufsagen.

Ich sah mich um und fing dabei einige Gesprächfetzen vom Nebentisch auf: „Unfall“, „Tod“, „jung“ – der Oberkellner redete mit einigen Gästen, blickte zu mir herüber: „Jorge ist tot!“ “Nein!“, fast war es ein Schrei, „Jorge ist tot? Wieso? Das kann nicht sein!“ „Auf dem Weg hierhin ist er heute Mittag mit dem Auto verunglückt“, sagte erschütternd sein Kollege, „wir wissen nicht genau wie es geschah. Es war wohl ein Zusammenstoß. Er ist wahrscheinlich sofort gestorben.“ „Das ist doch nicht möglich, das darf doch nicht wahr sein?!“, antwortete ich entsetzt. Ich weinte. Jorge, der junge Mann mit der Vorzeigefamilie, Jorge, der Vater von drei Kindern war tot. Einfach so. Wie ist es, wenn man aufsteht und nicht ahnt, dass dies der letzte, kürzeste Tag im Leben sein wird? Was spürt man in dem Moment, da das Unglück naht, der Aufprall unvermeidlich Gestalt annimmt und die letzte Wahrnehmung im Nichts verschwindet?

Mehrere Minuten – ich weiß nicht genau wie lange – saß ich in mich versunken und konnte keinen Gedanken zu Ende bringen. Der Schock, der einen Menschen in Trance zu bringen vermag, der die Sinne verwirrt und Handlungsfähigkeit nur begrenzt erlaubt, er löste sich nur langsam und erst als ich den Blick wieder an einen kleinen Hund heften konnte, der regungslos unter einem der Tische lag, kam ich wieder zurück in die Realität. Mit zwei Zügen trank ich meinen Wein aus, legte das Geld in das bereitgestellte Silberschälchen und verließ das Haus.

Die Dämmerung war schon stark fortgeschritten, kaum ein Mensch auf den Straßen zu sehen und die Möwen zogen ihre Kreise nicht. Jetzt erst fiel mir auf, dass sie schon, noch ehe ich den Saal betrat, heute nicht flogen. Jedenfalls erinnerte ich mich daran nicht…

Tanja Krienen

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