Zum 31. Jahrestag der Okkupation Nord-Zyperns
Heute jährt sich zum 31. Mal der militärische Angriff der Türkei auf die Republik Zypern, dessen wesentliche Ergebnisse bis heute zu Lasten des EU-Mitgliedstaates Zypern unangetastet geblieben sind.
Von Daniel L. Schikora
Nachdem der Vormarsch der Nationalisten in Anatolien und Ostthrakien im Januar 1923 bereits insofern ethnographische Fakten geschaffen hatte, als über 1 Mio. Griechen vertrieben oder zur Flucht gezwungen worden waren, erklärte sich Griechenland auf der Konferenz von Lausanne dazu bereit, das Prinzip des ethnisch begründeten Bevölkerungsaustausches aufgrund vertraglicher Einigung souveräner Völkerrechtssubjekte anzuerkennen. Dieses Prinzip, das der durch den Völkerbund mit der Vermittlung im griechisch-türkischen Konflikt beauftragte Kommissar für Flüchtlingsfragen, Nansen, unter dem Eindruck der mit der Einnahme Smyrnas durch die Nationalisten verbundenen Gräuel im September 1922 postuliert hatte und das von der Seite Ankaras bereitwillig aufgenommen worden war, sollte nun auf die ca. 400.000 in ihrer anatolischen Heimat verbliebenen Griechen ebenso angewendet werden, wie auf die ca. 450.000 in griechischem Territorium lebenden Muslime. Gemäß der „Konvention über den Austausch der griechischen und türkischen Bevölkerungen“, auf die sich die betroffenen Staaten am 30.1.1923 einigten, unterlag das Recht, den Transfer zu vollziehen, den staatlichen Hoheitsträgern; das (anfangs von der griechischen Regierung favorisierte) Prinzip der individuellen Entscheidung zur Auswanderung war aufgegeben worden. Ab dem 1.5.1923 sollte ein Zwangsaustausch statt finden, von dem freilich die Griechen Konstantinopels sowie der muslimische Bevölkerungsteil Westthrakiens ausgenommen werden würden. Unter den Bedingungen eines Verzichts Ankaras auf Reparationsforderungen an Griechenland aufgrund dessen (zunächst mit alliierter Rückendeckung unternommener) Militäraktionen sowie einer Freilassung auch der in der Türkei internierten griechischen Zivilisten war die griechische Regierung bereit, durch die Friedensvertragsunterzeichnung der Auslöschung der griechischen Gemeinden Westkleinasiens zuzustimmen.
Die geographische Lage Zyperns
Wenngleich in Griechenland die Megali Idea der Wiederherstellung eines byzantinischen Reiches unter Einbeziehung Anatoliens als staatspolitische Option angesichts des türkisch-nationalistischen Triumphs dauerhaft diskreditiert war, setzten sich die Konfliktlinien des griechisch-türkischen Antagonismus als einer Auseinandersetzung zwischen zwei tendenziell unvereinbaren irredentistischen Projekten auch und vor allem in Gestalt des Konflikts um die Mittelmeerinsel Zypern fort. Deren völkerrechtlicher Status war durch den Lausanner Friedensvertrag dahingehend geklärt worden, dass die Türkei einen Verzicht auf das Territorium erklärte, so dass Großbritannien (das die Insel ab 1878 verwaltet und 1918 unilateral annektiert hatte) offiziell uneingeschränkte Souveränitätsrechte auf Zypern für sich in Anspruch nehmen und die Insel für eine Kronkolonie erklären konnte. In der Tradition der erfolgreichen kretischen Irredentisten gaben die griechischen Zyprioten jedoch berei ts 1931 ihrem Willen, die Vereinigung mit dem griechischen Mutterland (= Enosis) zu verwirklichen, durch einen antikolonialen Volksaufstand Ausdruck.
1954 postulierte Griechenland vor den Vereinten Nationen die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts Zyperns. Ungeachtet dessen wurde dem (ethnisch-) griechisch majorisierten Inselstaat Zypern, der am 16.8.1960 als unabhängige Republik proklamiert wurde, aufgrund der Verträge von Zürich und London (19.2.1959) nur eine begrenzte Wahrnehmung seiner Souveränität unter dem Schutz der Garantiemächte Großbritannien, Griechenland und Türkei zugestanden. (Demgegenüber hatte der türkische Nationalstaat aufgrund seiner militärischen Stärke 1923 erfolgreich auf einer prinzipiellen Nichteinmischung in seine internen Angelegenheiten zu bestehen vermocht und dieses Prinzip in dem Frieden von Lausanne vertraglich fixieren lassen.) So verzichtete Zypern nicht nur auf eine Vereinigung mit Griechenland, sondern verpflichtete sich darüber hinaus auch auf eine ethnisch-föderalistische Verfassungsordnung: Art. 182 des Vertragswerkes legte ein Veto-Recht der türkisch-zypriotischen Minorität au ch in politischen und rechtlichen Fragen fest, die nicht unmittelbar die Regelung des interethnischen Zusammenlebens betreffen.
Als Präsident Makarios im November 1963 eine Verfassungsrevision durchzusetzen trachtete, wurde dies seitens der türkisch-zypriotischen Gemeinschaft harsch zurückgewiesen. Die Gewaltexzesse griechischer und türkischer Nationalchauvinisten gegen wehrlose Angehörige der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe in zypriotischem Territorium (Dezember 1963), die vertragswidrige Verstärkung der (griechisch-)zypriotischen Nationalgarde durch 10.000 griechische Soldaten unter der Verantwortung der Regierung Georgios Papandreou sowie die Bombardierung von Siedlungen der Zypern-Griechen durch Ankara (August 1964) dokumentierten einen Prozess des Zerfalls staatlichen Hoheitsgewalt unter Beteiligung der Türkei und Griechenlands, also zweier der drei vertraglich zur Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit Zyperns verpflichteten „Garantiemächte“.
Die „Internationalisierung“ des Zypern-Konflikts gipfelte 1974 in einem durch die Athener Militärjunta unter Demitrios Joannides initiierten und vorübergehend erfolgreichen Putsch gegen den demokratisch legitimierten Präsidenten Zyperns (15.7.) und dem darauffolgenden militärischen Angriff der Türkei auf den Inselstaat (20.7.). Diese Militäroperation („Attila I“) rechtfertigte Ankara – unter Berufung auf die Verträge von Zürich und London – mit der Absicht, die Verfassung der Republik wiederherzustellen und den Bestand der türkisch-zypriotischen Bevölkerungsgruppe zu garantieren. Ungeachtet dieser Bekundung leitete die Türkei am 14.8. – nach der Wiederherstellung der demokratischen zypriotischen Republik (23.7.) – durch Angriffe auf strategische Ziele in Nikosia und Famagusta die Militäroperation „Attila II“ ein, in deren Ergebnis 36,4 v. H. des Territoriums der Republik Zypern besetzt und 200.000 Zypern-Griechen ihrer Heimat beraubt waren. 1983 vollendete die Ausrufung der „ Türkischen Republik Nordzypern“ (1975-1983: „Türkischer Bundesstaat Zypern“), die allerdings ausschließlich von Ankara anerkannt wurde (und wird), die dauerhafte Teilung des Inselstaates, dessen Hoheit durch die Militärintervention der Türkei de facto auf den Süden reduziert worden ist. Durch die ‚ethnische Flurbereinigung’ Nordzyperns (durch die Verweigerung eines Rückkehrrechtes der geflohenen oder vertriebenen griechischen Zyprioten perpetuiert) wurden in gewisser Hinsicht die zunächst gegen die Griechen Kleinasiens und Ostthrakiens sowie die in den östlichen Provinzen beheimateten Armenier gerichteten „Türkifizierungs“bestrebungen in fremdem Territorium fortgesetzt.
Der ungelöste Zypern-Konflikt erscheint als geeignet, beispielhaft vor Augen zu führen, dass die Antinomie zwischen griechischem und türkischem Nationalismus nicht nur in der kulturellen Überlieferung der Gesellschaften dieser beiden (Staats-)Nationen fortlebte, sondern vielmehr auch in der internationalen Arena bisweilen sogar in Form militärischer Gewaltandrohung und anwendung ihren Ausdruck fand. Weder das außenpolitische ‚Vermächtnis’ des türkischen Unabhängigkeitskrieges – die Konstituierung des am 29.10.1923 für eine Republik erklärten säkularen türkischen Nationalstaates als einer ‚saturierten’ Macht, deren Außenpolitik sich des Bestrebens einer territorialen Erweiterung in den ersten Jahrzehnten nach dem Friedensvertragsabschluss bewusst enthielt –, noch die Mitgliedschaft Griechenlands wie der Türkei im Nordatlantikpakt vermochten eine diplomatische und militärische Verwicklung Athens und Ankaras in einen (freilich regional begrenzten) irredentistisch begründeten Ko nflikt zwischen (ethnischen) Griechen und Türken dauerhaft zu verhindern. Die britischen Militärbasen im Süden der Insel hingegen, die als Relikte der britischen Kolonialherrschaft die Unabhängigkeitserklärung der Republik Zypern überdauert haben, tragen ihrerseits dazu bei, eine dauerhafte „Internationalisierung“ des Territoriums eines VN-Mitgliedstaates zu garantieren.
Graphiken aus: dtv-Atlas Weltgeschichte, Bd. 2: Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart. München 1999, Steinbach, Udo: Die Türkei im 20. Jahrhundert. Schwieriger Partner Europas. Bergisch Gladbach 1996